Entscheidungsstichwort (Thema)
Kriterien für die gerichtliche Ausübung des Ermessens bei der Entscheidung über die Aussetzung eines Bestandsschutzverfahrens im Hinblick auf ein vorgreifbares Bestandsschutzverfahren
Leitsatz (amtlich)
Im Rahmen der Ermessensausübung bei der Entscheidung über eine Aussetzung iSv. § 148 ZPO sind - auch bei einem Bestandsschutzverfahren im Hinblick auf ein vorgreifliches Bestandsschutzverfahren - mindestens zu berücksichtigen: das Beschleunigungsgebot, der Stand der beiden Verfahren, insbesondere des vorgreiflichen Rechtsstreits und dessen voraussichtliche Dauer und damit die voraussichtliche Dauer der Aussetzung, ebenso die Vorschriften zum Schutz vor überlanger Verfahrensdauer § 9 Abs. 2 Satz 2 ArbGG, § 198 ff GVG, die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten der Klagepartei auch in jenem Rechtsstreit, ob bereits ein Urteil zu ihren Gunsten ergangen ist und wie gegebenenfalls die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels zu beurteilen sind, die wirtschaftliche Situation beider Parteien, die Notwendigkeit für die Klagepartei, ihre Ansprüche mit Hilfe eines gerichtlichen Titels durchsetzen zu müssen und das Verhalten der Klagepartei. Das Beschwerdegericht hat lediglich zu prüfen, ob das Arbeitsgericht den Ermessensspielraum überschritten hat oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Ist dies der Fall, so muss der angefochtene Beschluss über eine (Nicht-)Aussetzung gemäß § 148 ZPO aufgehoben werden und die erforderlichen Anordnungen sind gemäß § 572 Abs. 3 ZPO dem Arbeitsgericht zu übetragen.
Normenkette
ZPO §§ 148, 572 Abs. 3
Verfahrensgang
ArbG Kassel (Entscheidung vom 18.03.2020; Aktenzeichen 6 Ca 308/19) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Kassel vom18. März 2020 – 6 Ca 308/19 – aufgehoben.
Die erforderliche Anordnung wird der Kammer des Arbeitsgerichts Kassel übertragen.
Gründe
I.
Mit ihrer sofortigen Beschwerde wendet sich die Beklagte gegen eine Nichtaussetzung eines Kündigungsrechtsstreits.
Die Klägerin war seit Februar 1998 bei der Beklagten, auf die das Arbeitsverhältnis zum 1. Januar 2011 übergegangen ist, als Leiterin der Personalwirtschaft beschäftigt. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis zunächst am 30. November 2018 zum 30. Juni 2019 und sodann am 18. März 2019 außerordentlich fristlos und hilfsweise ordentlich fristgerecht. In dem deswegen zwischen den Parteien geführten Rechtsstreit hat das Arbeitsgericht Kassel mit Urteil vom 28. Juni 2019 – 2 Ca 437/18 - festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die Kündigung vom 30. November 2018, noch durch die Kündigung vom 18. März 2019 aufgelöst worden ist und hat die Beklagte zur Weiterbeschäftigung der Klägerin verurteilt. Einen Auflösungsantrag der Beklagten hat es mit dem Urteil zurückgewiesen. Die Beklagte hat gegen das der Klage stattgebende Urteil Berufung eingelegt. In dem Berufungsverfahren vor dem Hessischen Landesarbeitsgericht – 15 Sa 999/19 - ist nach jeweils einem Verlegungsantrag beider Parteien Termin zur mündlichen Verhandlung am 27. Oktober 2020 anberaumt.
Seit März 2019 hat die Beklagte an die Klägerin keine Entgeltzahlungen mehr geleistet. Die Klägerin hat mit Schreiben vom 8. Juli und 8. September 2019 Entgeltzahlungsansprüche gegen die Beklagte außergerichtlich geltend gemacht und am 23. August 2019 die Zwangsvollstreckung auf Weiterbeschäftigung gegen die Beklagte betrieben.
Die Beklagte hat das Arbeitsverhältnis erneut mit Schreiben vom 16. September 2019 außerordentlich fristlos und hilfsweise ordentlich fristgerecht gekündigt, für den Fall, dass zwischen den Parteien noch ein Arbeitsverhältnis bestehen sollte (Bl. 31 d.A.).
Das Arbeitsgericht hat mit Beschluss vom 18. November 2019 – 2 Ca 437/18 – gegen die Schuldnerin/Beklagte zur Erzwingung der Verpflichtung aus dem Urteil vom 28. Juni 2019 ein Zwangsgeld verhängt (Bl. 55 – 58 d.A.). Das Hessische Landesarbeitsgericht hat mit Beschluss vom 6. Januar 2020 – 15 Sa 999/19 – die Zwangsvollstreckung eingestellt.
Im Gütetermin am 27. November 2019 hat das Arbeitsgericht im wegen der Kündigung vom 16. September 2019 geführten Rechtsstreit darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei, das vorliegende Verfahren gemäß § 148 ZPO bis zur rechtskräftigen Entscheidung in dem vorgreiflichen Kündigungsschutzverfahren - 2 Ca 437/18 – auszusetzen und den Parteien rechtliches Gehör gewährt (Bl. 50 d.A.). Es hat der Beklagten mit einem am 8. Januar 2020 verkündeten Beschluss „zur Vorbereitung einer Entscheidung über den Aussetzungsantrag der Beklagten vom 9. Dezember 2019 (Bl. 75 d.A.) „…. aufgegeben, abschließend zur Klage zu erwidern und hierbei konkrete Tatsachen zu einem möglichen Grund für ihre streitgegenständliche Kündigung vom 16. September 2019 vorzutragen.“, sowie „..konkrete Tatsachen zur Betriebsratsanhörung vor Ausspruch dieser Kündigung vorzutragen“. Nach – binnen antragsgem...