Entscheidungsstichwort (Thema)
Unzulässigkeit der generellen Briefwahl bei der Aufsichtsratswahl. Eröffnung der Briefwahl für voraussichtlich nicht im Betrieb anwesende Beschäftigte. Mögliche Beeinflussung des Wahlergebnisses als Anfechtungsvoraussetzung nach § 22 MitbestG
Leitsatz (amtlich)
1. Die Kammer hat bereits entschieden, dass eine generelle Anordnung der Briefwahl bei der Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat unzulässig ist (vgl. hierzu: Hess.LAG 31. Juli 2017 - 16 TaBV 32/17 - Rn. 59).
2. Die hier eröffnete "zusätzliche" Möglichkeit der schriftlichen Stimmabgabe hat in § 49 Absatz 2 der Dritten WahlO zum MitbG keine Grundlage. Der Haupt- und Betriebswahlvorstand haben allen Wahlberechtigten diese Möglichkeit als frei wählbare Option neben der persönlichen Stimmabgabe eingeräumt. § 49 Abs. 2 WahlO ermöglicht dies jedoch nur in Bezug auf Wahlberechtigte, von denen dem Betriebswahlvorstand bekannt ist, dass sie im Zeitpunkt der Wahl nach der Eigenart ihres Beschäftigungsverhältnisses voraussichtlich nicht im Betrieb anwesend sein werden (insbesondere im Außendienst, mit Telearbeit und in Heimarbeit Beschäftigte). Dies war hier gerade nicht in Bezug auf sämtliche Wahlberechtigte der Fall.
Leitsatz (redaktionell)
1. § 49 der Dritten Wahlordnung zum Mitbestimmungsgesetz enthält eine abschließende Aufzählung der Voraussetzungen, unter denen eine schriftliche Stimmabgabe möglich ist. Eine Erweiterung der Briefwahl oder die generelle Zulassung der Briefwahl sind nicht zulässig.
2. Die Briefwahl soll nur in Bezug auf Wahlberechtigte ermöglicht werden, von denen dem Betriebswahlvorstand bekannt ist, dass sie im Zeitpunkt der Wahl nach der Eigenart ihres Beschäftigungsverhältnisses voraussichtlich nicht im Betrieb anwesend sein werden (insbesondere im Außendienst, mit Telearbeit und in Heimarbeit Beschäftigte).
3. Nach § 22 Abs. 1 MitbestG berechtigen Verstöße gegen wesentliche Wahlvorschriften nur dann zur Anfechtung der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer, wenn durch den Verstoß das Wahlergebnis geändert oder beeinflusst werden konnte. Dies ist der Fall, wenn bei einer hypothetischen Betrachtungsweise eine Wahl ohne den Verstoß unter Berücksichtigung der konkreten Umstände zu einem anderen Wahlergebnis hätte führen können.
Normenkette
3. WOMitbestG § 49 Abs. 2; MitbestG § 22 Abs. 2
Verfahrensgang
ArbG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 15.02.2022; Aktenzeichen 4 BV 152/21) |
Nachgehend
Tenor
Die Beschwerden der Beteiligten zu 5, 7 bis 20 gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 15. Februar 2022 – 4 BV 152/21 – werden zurückgewiesen.
Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit der Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat.
Im Unternehmen der Beteiligten zu 17 (Arbeitgeber) ist ein Aufsichtsrat (Beteiligter zu 18) gebildet, der nach Maßgabe des Mitbestimmungsgesetzes und der 3. Wahlordnung zum Mitbestimmungsgesetz zu wählen ist. Die Antragsteller zu 1, 3 und 4 sind wahlberechtigte Arbeitnehmer. Die Beteiligten zu 5, 7-16 wurden bei der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat der Beteiligten zu 17 vom 3. bis 10. Mai 2021, deren Ergebnis am 12. Mai 2021 bekannt gegeben und am 21. Mai 2021 im Bundesanzeiger veröffentlicht wurde, gewählt. Wegen des Wahlergebnisses wird auf Bl. 7, 7R der Akte Bezug genommen. Die Beteiligten zu 19 und 20 sind im Unternehmen vertretene Gewerkschaften.
Der Hauptwahlvorstand fasste in seiner Sitzung vom 23. Februar 2021 unter dem Tagesordnungspunkt 3 (Bl. 156, 157 der Akte) folgenden Beschluss:
„Es wird vom 3. bis 10. Mai eine Präsenzwahl angeboten (Wahllokale im BG3, 451, 420, eventuell Kantine). Zusätzlich werden jedem Mitarbeiter die Unterlagen für die Briefwahl nach Hause geschickt.
Falls man per Briefwahl gewählt hat, kann man dennoch seine Stimme noch persönlich abgeben, da die in Präsenz abgegebene Stimme dann zählen würde.
Über den Ablauf der Wahl (Kombination aus Präsenz- und Briefwahl) wurde ein Informationsschreiben verfasst, welches den Briefwahlunterlagen beigelegt wird.
Diese Durchführung der Wahl wurde einstimmig beschlossen.“
Der Betriebswahlvorstand A (Boden) der Beteiligten zu 17 fasste in seiner Sitzung vom 24. März 2021 einstimmig den Beschluss, dem Beschluss des Hauptwahlvorstands zuzustimmen und zusätzlich zur Präsenzwahl die Möglichkeit der Briefwahl anzubieten. Hierüber wurden sämtliche wahlberechtigten Arbeitnehmer im Betrieb A nochmals separat schriftlich unterrichtet. Sämtlichen wahlberechtigten Arbeitnehmern der Beteiligten zu 17 im Betrieb A als auch in den mitbetreuten LCAG-Stationen und in der B wurde mit den Briefwahlunterlagen ein ergänzendes Schreiben „Aufsichtsratswahl 2021 der C“ übersandt, wegen dessen Inhalt im Einzelnen auf Bl. 158 der Akte verwiesen wird. Dort heißt es unter anderem:
„In der momentanen Zeit ist zu berücksichtigen, dass sehr viele von Euch aufgrund von Home-Office, Kurzarbeit,...