Leitsatz (amtlich)
§ 12 Nr. 1.2 S. 2 BanRTV-Bau Arbeiter verstößt ebenso wie § 622 Abs. 2 S. 2 BGB insoweit gegen Art. 3 Abs. 1 GG, als bei der Berechnung der für die verlängerten Kündigungsfristen maßgeblichen Beschäftigungsdauer eines Arbeiters Zeiten nicht berücksichtigt werden, die vor Vollendung des 35. Lebensjahres liegen, während bei einem Angestellten des Baugewerbes nach § 11 Nr. 1.1 Rahmentarifvertrag für die technischen und kaufmännischen Angestellten des Baugewerbes im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Berlin i. V. m. § 2 Abs. 2 S. 3 des Gesetzes über die Kündigungsfristen für Angestellte bereits Zeiten nach Vollendung des 25. Lebensjahres mitgerechnet werden.
2. Hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm festgestellt, dann darf sie von den Gerichten – im umfang der Verfassungswidrigkeit – nicht mehr angewendet werden.
3. a). Hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes festgestellt und bestehen für die Herstellung einer verfassungsgemäßen Rechtslage mehrere Möglichkeiten für eine gesetzliche Regelung, dann muß der Gesetzgeber unverzüglich die ihm obliegende Entscheidung treffen. Die Gerichte haben anhängige Verfahren bis zur Entscheidung des Gesetzgebers auszusetzen.
b). Die Gerichte für Arbeitssachen können jedoch verpflichtet sein, durch eine eigene Entscheidung eine verfassungsgemäße Rechtslage herzustellen, wenn erkennbar wird, daß der Gesetzgeber die ihm obliegende gesetzliche Neuregelung nicht durchführen will.
Normenkette
BGB § 622 Abs. 2-3; G. über d. Kündigungsfristen für Angestellte § 2 Abs. 2; GG Art. 3 Abs. 2, Art. 19 Abs. 4, Art. 100 Abs. 1; BRTV-Bau Arbeiter § 12 Ziff. 1; RTV-Bau § 11 Ziff. 1
Verfahrensgang
ArbG Darmstadt (Aktenzeichen 4 Ca 180/84) |
Tenor
Es sollen
1. beim Präsidenten des Deutschen Bundestages
2. beim Präsidenten des Deutschen Bundesrates
3. bei der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland
amtliche Auskünfte zu der Frage eingeholt werden, ob und gegebenenfalls wann der Gesetzgeber der Bundesrepublik Deutschland die Kündigungsfristen für ältere Arbeiter mit längerer Betriebszugehörigkeit neu regeln will.
Tatbestand
I.
Die Beklagte ist ein unternehmen der Bauindustrie, das seinen Geschäftsbetrieb zum 30. April 1984 stillgelegt hat.
Der im Jahre 1933 geborene Kläger war seit Juni 1961 bei der Beklagten als Maurer … beschäftigt und erhielt zuletzt einen Monatslohn von 2.733,40 DM brutto.
Auf das Arbeitsverhältnis ist der für allgemeinverbindlich erklärte Bundesrahmentarifvertrag für die gewerblichen Arbeiter des Baugewerbes vom 3. Februar 1981 in der Fassung vom 20. Oktober 1983 anwendbar (Allgemeinverbindlichkeit serklärung vom 20. Dezember 1983, BAnz. Nr. 245 v. 31. Dezember 1983). Er enthält in § 12 Nr. 1 unter der Überschrift „Kündigungsfristen” unter anderem folgende Bestimmungen:
1.1 Allgemeine Kündigungsfrist
Das Arbeitsverhältnis kann beiderseitig unter Einhaltung einer Frist von 6 Werktagen, nach 12monatiger Dauer von 12 Werktagen gekündigt werden …
1.2 Verlängerte Kündigungsfrist für ältere Arbeitnehmer mit längerer Betriebszugehörigkeit
Hat das Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb oder Unternehmen 5 Jahre bestanden, so erhöht sich die Kündigungsfrist für den Arbeitgeber auf einen Monat zum Monatsende,
hat es 10 Jahre bestanden, so erhöht sich die Kündigungsfrist für den Arbeitgeber auf zwei Monate zum Monatsende,
hat es 20 Jahre bestanden, so erhöht sich die Kündigungsfrist für den Arbeitgeber auf drei Monate zum Ende eines Kalendervierteljahres.
Bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer werden Zeiten, die vor der Vollendung des 35. Lebensjahres liegen, nicht berücksichtigt. Zeiten unterbrochener Betriebszugehörigkeit werden zusammengerechnet, wenn die Unterbrechung nicht vom Arbeitnehmer veranlaßt wurde und sie nicht länger als 6 Monate gedauert hat.
Demgegenüber bestimmt der zur gleichen Zeit gültige Kahmentarifvertrag für die technischen und kaufmännischen Angestellten des Baugewerbes im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Berlin in § 11 Nr. 1.1:
Die Kündigungsfristen richten sieh nach den gesetzlichen Vorschriften.
Wegen der beabsichtigten Stillegung des Betriebes kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers am 29. Februar 1984 mit einer Frist von zwei Monaten zum 30. April 1984.
Der Kläger hat mit der Klage geltend gemacht, die Beklagte habe bei der von ihr ausgesprochenen Kündigung eine Frist von drei Monaten zum Ende des Kalendervierteljahres, d. h. zum 30. Juni 1984 einhalten müssen. Er ist der Ansicht gewesen, mit der Vorschrift des § 12 Nr. 1.2 BRTV Bau Arbeiter über die Kündigungsfristen für ältere und länger beschäftigte Arbeiter hätten die Tarifvertragsparteien nur die gesetzliche Bestimmung des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB übernommen, nicht aber aufgrund des § 622 Abs. 3 BGB eine eigenständige Regelung getroffen. … Im Beschluß vom 16. November 1982 – 1 BvL 16/75 und 1 BvL 36/79 – (AP Nr. 16 zu § 622 BGB) habe aber das Bundesverfassungsgericht die Vorschrift des ...