Entscheidungsstichwort (Thema)
Anfechtung der Wahl der Schwerbehindertenvertretung. Grundsatz der Chancengleichheit der Wahlbewerber. Wahlwerbung der Amtsinhaber vor der Wahl als Ausnutzung ihres Amtsbonus. Anfechtbarkeit einer Wahl nur bei hypothetischer Ergebnisrelevanz des Verstoßes gegen die Wahlvorschriften und -grundsätze
Leitsatz (redaktionell)
1. Nach § 177 Abs. 6 Satz 2 SGB IX i.V.m. § 19 Abs. 1 BetrVG kann die Wahl zur Schwerbehindertenvertretung angefochten werden, wenn gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren verstoßen wurde und eine Berichtigung nicht erfolgt ist, es sei denn, dass durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht geändert oder beeinflusst werden konnte.
2. Nach dem Grundsatz der Chancengleichheit soll jeder Wahlbewerber die gleichen Möglichkeiten im Wahlkampf und im Wahlverfahren und damit die gleiche Chance im Wettbewerb um die Wählerstimmen haben. Hierbei handelt es sich um ein notwendiges Element einer demokratischen Wahl und damit eine wesentliche Verfahrensvorschrift, die verletzt wird, wenn der Wahlvorstand einzelnen Bewerbern Vorrechte gegenüber anderen einräumt.
3. Versenden die amtierende Schwerbehindertenvertrauensperson und ihre Stellvertreterin ein Schreiben an die Wahlberechtigten als Wahlwerbung vor der Wahl, nutzen sie damit gezielt ihren Amtsbonus aus, um bei den Wählern um Stimmen zu werben. Dies reicht aus, um das Schreiben insgesamt, auch wenn es sich letztlich nur um einen Satz im Gesamtkontext handelt, als Wahlwerbung zu qualifizieren.
4. Für die Anfechtung der Wahl ist entscheidend, ob bei einer hypothetischen Betrachtungsweise eine Wahl ohne den Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften unter Berücksichtigung der konkreten Umstände zwingend zu demselben Wahlergebnis geführt hätte. Eine verfahrensfehlerhafte Wahl muss nur dann nicht wiederholt werden, wenn sich konkret feststellen lässt, dass auch bei Einhaltung der Wahlvorschriften kein anderes Ergebnis erzielt worden wäre. Kann diese Feststellung nicht getroffen werden, bleibt es bei der Unwirksamkeit der Wahl.
Normenkette
SGB IX § 177 Abs. 6; BetrVG § 19 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 10.09.2019; Aktenzeichen 24 BV 615/18) |
Tenor
Die Beschwerde der Beteiligten zu 5 gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 10. September 2019 – 24 BV 615/18 - wird zurückgewiesen.
Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit der am 8. Oktober 2018 durchgeführten Wahl einer Schwerbehindertenvertretung.
Der Arbeitgeber (Beteiligter zu 8) betreibt eine Fluggesellschaft. In deren für das Bodenpersonal in A bestehendem Betrieb sind die Antragsteller zu 1-4 beschäftigt. Dort ist eine Schwerbehindertenvertretung (Beteiligte zu 5) gebildet, deren 1. Stellvertreterin die Beteiligte zu 6 und 3. Stellvertreterin die Beteiligte zu 7 sind. 2. Stellvertreterin ist die Antragstellerin zu 2, 4. Stellvertreterin ist die Antragstellerin zu 4.
Mit Schreiben vom 15. August 2018 übersandte die damalige Schwerbehindertenvertretung an die privaten Email-Adressen der im Betrieb beschäftigten schwerbehinderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine Einladung zur Jahreshauptversammlung der Schwerbehindertenvertretung gemäß § 95 Abs. 6 SGB IX für den 25. September 2018, der ein Schreiben (Anl. AS 5, Bl. 19 der Akte) beigefügt war, dessen 4. Absatz lautet:
„Zum letzten Mal dürfen wir die Kollegen des fliegenden Personals bei unserer Versammlung begrüßen. Durch die Neuwahlen bei der Personalvertretung wurde die Voraussetzung für die Wahl einer eigenen Schwerbehindertenvertretung geschaffen. Die SBV-Wahl steht auch bei uns in Kürze an. Sie wird in Briefwahl durchgeführt. Sie erhalten ihre Wahlunterlagen Ende September per Post zugeschickt. Gewählt werden wieder eine Vertrauensperson und mehrere StellvertreterInnen. Die im Amt befindlichen treten wieder an und würden sich über ihr Vertrauen sehr freuen. Bitte nutzen Sie Ihr Recht zu wählen sehr zahlreich. Eine hohe Wahlbeteiligung dokumentiert das Interesse an unseren Themen.“
Das Schreiben enthält sodann die Namen der (damaligen) Schwerbehindertenvertrauensperson und ihrer 1. Stellvertreterin.
Am 23. August 2018 erließ der Wahlvorstand das Wahlausschreiben (Anl. AS 1, Bl. 14f der Akte). Am 21. September 2018 versandte der Wahlvorstand die Wahlunterlagen an die Wahlberechtigten.
In der Zeit zwischen dem 20. und dem 27. September 2018 wandte sich die Antragstellerin zu 2 wiederholt an den Wahlvorstand, zunächst mit der Bitte einen „e-Flyer“ der Kandidaten an die Wahlberechtigten zu versenden, sodann forderte sie Chancengleichheit der Wahlbewerber, die durch das Begleitschreiben der derzeitigen Amtsinhaber zur Einladung für die Jahreshauptversammlung verletzt sei. Der Wahlvorstand berief sich auf seine Verpflichtung zur Neutralität und wies darauf hin, dass die Geschäftsleitung bei der Betriebsrats-/Aufsichtsratswahl Werbeflächen an verschiedenen Coffeepoints und den Pool- ...