Entscheidungsstichwort (Thema)
Vollstreckungstitel als Grundlage der Zwangsvollstreckung. Erfüllungseinwand des Schuldners im Zwangsvollstreckungsverfahren. Unmöglichkeit der Zwangsvollstreckung
Leitsatz (redaktionell)
1. Handelt es sich bei dem Titel um ein Urteil, können nach dessen vollständiger Zustellung Tatbestand und Entscheidungsgründe zur Auslegung des Titels herangezogen werden. Weiter ist zu berücksichtigen, dass § 313 Abs. 2 ZPO die Verweisung auf Schriftsätze, Protokolle und andere Unterlagen ausdrücklich vorsieht. Soweit das Gericht davon Gebrauch gemacht hat, sind diese Unterlagen deshalb als Teil des vollstreckbaren Titels zu betrachten und können zur Auslegung herangezogen werden.
2. Der Erfüllungseinwand ist im Zwangsvollstreckungsverfahren erheblich. Der Schuldner ist nicht nur im Verfahren der Vollstreckungsgegenklage, sondern auch im Zwangsvollstreckungsverfahren mit seinem Einwand zu hören, der vollstreckbare Anspruch sei erfüllt.
3. Die Frage der Unmöglichkeit ist im Zwangsvollstreckungsverfahren nach § 888 ZPO zu prüfen. Materielle Einwendungen gegen den zu vollstreckenden Anspruch sind nicht ausschließlich im Verfahren der Vollstreckungsabwehrklage nach § 767 ZPO zu berücksichtigen, sondern können auch im Zwangsvollstreckungsverfahren nach §§ 887 und 888 ZPO zu beachten sein. Das gilt auch für den Einwand der Unmöglichkeit der Zwangsvollstreckung.
Normenkette
ZPO §§ 888, 313 Abs. 2, § 317 Abs. 2 S. 3, § 750 Abs. 1, § 753 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Gießen (Entscheidung vom 03.11.2020; Aktenzeichen 1 Ca 1/20) |
Tenor
Die sofortige Beschwerde der Schuldnerin gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Gießen vom 3. November 2020 - 1 Ca 1/20 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Die Rechtbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
I.
Die Schuldnerin (im Folgenden: Beklagte) ist durch Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 17. Juli 2020 - 1 Ca 1/20 - verurteilt worden, den Gläubiger (im Folgenden: Kläger) zu unveränderten Bedingungen des schriftlichen Arbeitsvertrags vom 1. März 2013 in der Fassung des Nachtrags vom 22. Dezember 2017 als Produktionsleiter unter Berücksichtigung von Ziff. 2 des Arbeitsvertrages vom 1. März 2013 bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits weiter zu beschäftigen.
Der Kläger war bei der Beklagten als Produktionsleiter seit dem 1. Januar 2018 beschäftigt. Der „Nachtrag zum Arbeitsvertrag vom 01.03.2013 in Verbindung mit dem Nachtrag vom 16.11.2016“ vom 22. Dezember 2017 (Bl. 17 f. d. A.) lautet auszugsweise wie folgt: „…
1.Aufgaben im BetriebDer Arbeitnehmer wird als Produktionsleiter eingestellt. Näheres Regelt die dieser Vereinbarung beizulegende Arbeitsplatzbeschreibung.
…
2.§ 4 des Vertrags vom 01.03.2013 „Vergütung“ wird geregelt wie folgt:… Diese Vereinbarung ist an seine Tätigkeit als Produktionsleiter gebunden. Er erhält darüber hinaus einen Bonus unter den hier aufgeführten Voraussetzungen:
i. Aufrechterhaltung eines einschichtigen Produktionsbetriebes während der 2-wöchigen Betriebsferien
ii. Vollständige Umsetzung 5S in der Werkstatt und E-Werk
iii. Technische Unterstützung der Erreichung der Zielausbeute…
iv. Technische Unterstützung der Erreichung der Zielproduktivität…
v. Entwicklung von Maßnahmen zur Reduktion der Leerlaufzeiten des Trockners
3. …
4.SonstigesAnsonsten soll es bei den Vereinbarungen des Arbeitsvertrags bleiben. …“
Die in § 1 Ziff. 1 des Nachtrags vom 22. Dezember 2017 in Bezug genommene Arbeitsplatzbeschreibung ist erstinstanzlich nicht zur Gerichtsakte gereicht worden.
Der Arbeitsvertrag vom 1. März 2013 (Bl. 6 ff. d. A.) enthielt in § 1 Ziff. 1 eine Regelung, nach welcher der Kläger als „Produktionsmeister“ eingestellt wurde und zu seinen Aufgaben u.a., die technische Unterstützung der Betriebsleitung bei Planung, Koordination, Überwachung und Optimierung der Betriebsabläufe gehörte. In § 18 Ziff. 1 dieses Arbeitsvertrags vereinbarten die Parteien, dass Änderungen des Vertrages oder Nebenabreden zur ihrer Wirksamkeit der Schriftform bedürften, was auch für die Änderung des Schriftformerfordernisses gölte.
Ab dem 1. September 2019 leitete der Kläger die sog. „Abteilung Operative Verbesserung“. Eine schriftliche Vereinbarung hierüber existiert nicht.
Mit Schreiben vom 27. Januar 2020 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien ordentlich. Diese Kündigung ist Gegenstand des Kündigungsschutzverfahrens - 1 Ca 1/20 -, in welchem der Kläger erstinstanzlich u.a. mit Kündigungsschutzklage und Weiterbeschäftigungsantrag obsiegt hat. Der nunmehr bei dem Hessischen Landesarbeitsgericht in der Berufung unter dem Az. - 6 Sa 980/20 - geführte Rechtsstreit ist noch nicht terminiert. Zur Durchsetzung des Weiterbeschäftigungstitels hat der Kläger bei dem Arbeitsgericht Gießen mit Schriftsatz vom 2. September 2020 (Bl. 166 ff. d. A.) die Festsetzung von Zwangsmitteln gegen die Beklagte beantragt.
Mit Schreiben vom 8. September 2020 forderte die Beklagte den Kläger auf, seine Tätigkeit ab 9. September 2020, 8:30 Uhr aufzunehmen. Als er an dem Tag zur Arbeitsaufna...