Entscheidungsstichwort (Thema)
Diskriminierung wegen Behinderung durch Zahlung eines Übergangsgeldes an freiwillig ausscheidende Arbeitnehmer bis zum Zeitpunkt des frühest möglichen Bezugs abschlagsfreier Altersrente
Leitsatz (amtlich)
Die Regelung in einer Dienstvereinbarung und einem auf ihr beruhenden Auflösungsvertrag, wonach das Übergangsgeld, dass einem freiwillig ausscheidenden Arbeitnehmer gezahlt wird, zum Zeitpunkt des frühst möglichen Bezugs abschlagsfreier Altersrente endet und damit schwerbehinderten Arbeitnehmern kürzer gezahlt wird als nicht schwerbehinderten Arbeitnehmern, ist gemäß §§ 7 Abs. II, I, 3 Abs. I, 1 AGG unwirksam. Die Vergleichbarkeit schwerbehinderter und nicht schwerbehinderter Arbeitnehmer entfällt nicht durch den früher möglichen Rentenbezug (so noch BAG 6.10.2010 - 6 AZN 815/11 - NZA 2011, 1431). Andernfalls würde der mit der vorzeitigen Altersrente gewährte Vorteil, der den besonderen Risiken und Schwierigkeiten Rechnung tragen soll, mit denen schwerbehinderter Menschen konfrontiert sind, beeinträchtigen. Dies ist mit Art. 2 Abs. 2 RL 2000/78/EG nicht zu vereinbaren (vgl. EuGH 6.12.2012 - C - 152/11 - NZA 2012, 1435, anders im Ergebnis LAG Berlin-Brandenburg 12.03.2014 - 23 Sa 1807/13 - Juris).
Normenkette
AGG § 3 Abs. 1, § 1
Verfahrensgang
ArbG Gießen (Entscheidung vom 29.07.2014; Aktenzeichen 9 Ca 71/14) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 29. Juli 2014 - 9 Ca 71/14 - teilweise abgeändert und die Beklagte verurteilt, an den Kläger für die Zeit vom 1. August 2014 bis zum 31. Dezember 2016 monatlich 2.929,76 Euro brutto zu zahlen.
Von den Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger 24 % und die Beklagte 76 % zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten auch in der Berufungsinstanz um Zahlungsansprüche des Klägers betreffend die Zahlung von Übergangsgeld.
Der am xx. xx 1951 geborene, als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger war bei der Beklagten seit dem 1. Juli 1978 aufgrund des schriftlichen Arbeitsvertrags vom 3. März 1978 (Bl. 5 d.A.) beschäftigt. Im Jahr 2002 schloss die Beklagte mit dem Hauptpersonalrat vor dem Hintergrund geplanter Strukturreformen die "Dienstvereinbarung Strukturreformen" (im Folgenden: Dienstvereinbarung) ab.
§ 16 dieser Dienstvereinbarung lautet:
"(1) Bei einvernehmlicher Auflösung eines unbefristeten Beschäftigungsverhältnisses von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nach Vollendung des 55. Lebensjahres erhalten die betroffenen Beschäftigten als Ausgleich für die ihnen entstehenden Nachteile, insbesondere für den Verlust des Arbeitsplatzes, die in den Absätzen 2 bis 4 genannten Abfindungsleistungen (Einmalzahlung, Übergangsgeld, Beitragszahlungen zur Zusatzversorgung), deren nähere Einzelheiten in einem Auflösungsvertrag vereinbart werden. (...)
(2) Anlässlich des Endes des Beschäftigungsverhältnisses wird eine Einmalzahlung i. H. v. 3 Bruttogehältern gezahlt. (...)
(3) Mit Beginn des vierten Monats nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses wird bis zum Beginn der Regelaltersgrenze (Vollendung des 65. Lebensjahres), längstens jedoch bis zum Erreichen einer ungekürzten Altersrente für langjährig Versicherte, für schwerbehinderte Menschen oder für Frauen nach den Vorschriften des 6. Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) ein monatliches Übergangsgeld i. H. v. 75 % des Bruttogehalts gezahlt. Die hierauf entfallenden Steuern und die vollständigen Beiträge für die (freiwillige oder private) Kranken; und Pflegeversicherung gehen zu Lasten der Betroffenen. Das zum Zeitpunkt des Ausscheidens festgesetzte Übergangsgeld wird entsprechend den linearen Bezügeanpassungen aufgrund von Tarifabschlüssen (dh. ohne Berücksichtigung evtl. Einmalzahlungen) angepasst und bleibt im Übrigen für den gesamten Bezugszeitraum unverändert.
(...)
(6) Wird nach Auflösung des Beschäftigungsverhältnisses eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit aufgenommen und überschreitet das im Monatsdurchschnitt eines Kalenderjahres daraus erzielte Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen die rentenrechtliche Hinzuverdienstgrenze für eine als Vollrente gewährte Altersgrenze nach § 34 Abs. 3 SGB VI, wird das monatliche Übergangsgeld ab Beginn des maßgeblichen Kalenderjahres ;ggf. auch rückwirkend; um den übersteigenden Betrag gekürzt. Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen aus mehreren Beschäftigungen und selbstständigen Tätigkeiten sind dabei zusammen zu rechnen. (...)"
Wegen der übrigen Einzelheiten der Dienstvereinbarung wird auf Bl. 6 bis 20 d.A. Bezug genommen.
Unter dem 20/22. Dezember 2005 unterzeichneten die Parteien einen Auflösungsvertrag, demzufolge das Arbeitsverhältnis einvernehmlich zum 31. Juli 2006 aufgelöst wurde.
§ 2 Abs. 2 und 3 der Aufhebungsvereinbarung lauten wie folgt:
"(2) Das nach Maßgabe von § 16 Abs. 3 DV Strukturreform zustehende monatliche Übergangsgeld beträgt brutto 2.486,01 Euro (in Worten zweitausendvierhundertsechsundachtzigeins/100)...