Entscheidungsstichwort (Thema)

Anhörung des Personalrats vor einer Kündigung. Anforderungen an die Personalratsanhörung. Sonderkündigungsschutz des Strahlenschutzbeauftragten. "Wichtiger Grund" i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Gemäß § 78 Abs. 2 HPVG ist der Personalrat vor außerordentlichen Kündigungen anzuhören. Für die Personalratsanhörung gelten die für die Betriebsratsanhörung entwickelten Grundsätze. Eine ordnungsgemäße Personalrats-/Betriebsratsanhörung ist Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung.

2. Der Arbeitgeber hat den Lebenssachverhalt, den er zum Anlass für die Kündigung nehmen will, dem Betriebsrat vollständig und mit allen ihm bekannten und objektiv für die Bewertung erforderlichen Umständen mitzuteilen. Auf jeden Fall sind das Lebensalter, die Betriebszugehörigkeit und ein eventueller Sonderkündigungsschutz für die Beurteilung durch die Arbeitnehmervertretung unverzichtbare Daten.

3. Ein funktionierendes System der betrieblichen Selbstüberwachung beim Strahlenschutz setzt die Unabhängigkeit des Amtes und des Beauftragten gegenüber dem Unternehmen voraus. Durch die Gewährung besonderen Kündigungsschutzes sollen Beauftragte nicht aus Angst vor einer drohenden Kündigung von einer sachgerechten Ausübung des Amtes abgehalten werden.

4. Bei einer fristlosen Kündigung ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falles jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht. Strafbare Handlungen wie z.B. Untreue stellen in der Regel einen "wichtigen Grund" dar.

 

Normenkette

BGB § 626 Abs. 1-2, § 140; HPVG § 78 Abs. 2 S. 1; ZPO § 253 Abs. 2 Nr. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 11.09.2018; Aktenzeichen 25 Ca 202/18)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 24.11.2022; Aktenzeichen 2 AZR 287/22)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten zu 1.wird das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 11. September 2018 – 25 Ca 202/18 – teilweise abgeändert und insgesamt, wie folgt, neu gefasst:

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 1. durch die Kündigung vom 9. März 2018 (datierend auf den 09.03.2017) nicht aufgelöst ist.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Die Gerichtskosten und außergerichtlichen Kosten des Klägers für die Berufung tragen der Kläger zu ¼ und die Beklagte zu 1. zu ¾.

Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1. für die Berufung trägt diese zu 3/4 und der Kläger zu 1/4.

Die Kosten des Revisionsverfahrens trägt der Kläger.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung. Wegen des Tatbestands einschließlich der erst- und zweitinstanzlich gestellten Anträge wird vollumfänglich auf den Tatbestand des mit Urteil des Bundesarbeitsgerichtes vom 10. Juni 2020 – Az.: 2 AZR 570/19 - teilweise aufgehobenen und zur neuen Verhandlung zurückverwiesenen Urteils des Hessischen Landesarbeitsgerichtes vom 30. Juli 2019 – Az.: 8 Sa 1339/18 - Bezug genommen.

Ergänzt wird, dass der Kläger unstreitig mit Schreiben vom 12. Juni 2017 als 1. stellvertretender Strahlenschutzbeauftragter nach Strahlenschutzverordnung für den medizinischen Bereich der B benannt wurde. Seine Abberufung erfolgte mit Schreiben vom 23. März 2018. Die Stellung des Klägers als stellvertretender Strahlenschutzbeauftragter und der sich daraus ergebende Sonderkündigungsschutz nach § 70 Abs. 6 Strahlenschutzgesetz findet sich in der Personalratsanhörung nicht.

Die Beklagte zu 1. (fortan: Beklagte) ist der Ansicht, die Anhörung des Personalrats sei ordnungsgemäß erfolgt. Der Umstand, dass dem Personalrat die Funktion des Klägers als stellvertretender Strahlenschutzbeauftragter nicht mitgeteilt worden sei, sei unschädlich. Der Wirksamkeit einer verhaltensbedingten, außerordentlichen Kündigung stehe eine etwaige fehlerhafte Mitteilung von Sozialdaten nicht entgegen, wenn es angesichts der Schwere der Kündigungsvorwürfe auf diese ersichtlich nicht ankomme. Der notwendige Inhalt der Unterrichtung richte sich nach Sinn und Zweck des Beteiligungsrechts. Dieser bestehe darin, den Betriebsrat bzw. Personalrat durch die Unterrichtung in die Lage zu versetzen, sachgerecht, das heißt gegebenenfalls zu Gunsten des Arbeitnehmers, auf den Arbeitgeber einzuwirken. Der Betriebsrat solle die Stichhaltigkeit und Gewichtung der Kündigungsgründe beurteilen und sich über sie eine eigene Meinung bilden können. Die Anhörung solle den Betriebsrat indes nicht die selbstständige, objektive Überprüfung der rechtlichen Wirksamkeit der beabsichtigten Kündigung ermöglichen. Es spiele keine Rolle, ob der Sonderkündigungsschutz seine Grundlage in einem Gesetz oder einem Tarifvertrag habe. Die Funktion des Klägers als stellvertretender Strahlenschutzbeauftragter sei für die Beurteilung der Kündigung durch den Personal...

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