Entscheidungsstichwort (Thema)

Informationspflichten eines schwerbehinderten Menschen gegenüber dem Arbeitgeber. Außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen unberechtigter Berufung auf den Status als schwerbehinderter Mensch

 

Leitsatz (amtlich)

1. Hat die Arbeitnehmerin bei Einstellung dem Arbeitgeber gegenüber Mitteilung über das Bestehen einer Schwerbehinderung gem. § 2 Abs. 2 SGB IX gemacht, so trifft sie die arbeitsvertragliche Nebenpflicht, den Arbeitgeber zu informieren, wenn sich der Grad der Behinderung so ändert, dass der Status als schwerbehinderter Mensch im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB IX entfällt.

2. Es stellt einen Verstoß gegen die Rücksichtnahmepflicht gem. § 241 Abs. 2 BGB dar, wenn sich eine Arbeitnehmerin in einem Antrag auf Teilnahme an der Telearbeit und bei Gesprächen über eine mögliche Versetzung auf den Status als schwerbehinderter Mensch bezieht, obgleich sie weiss, dass dies nicht (mehr) zutrifft.

3. Auch bei einer solchen Pflichtverletzung hat der Arbeitgeber aber zu prüfen, ob dem in ausreichender Weise durch den Ausspruch einer Abmahnung begegnet werden kann. Ergibt sich dies aus den Umständen des Einzelfalles - hier u.a. aus dem Umstand, dass aufgrund der unzutreffenden Angaben keine Nachteile auf Seiten des Arbeitgebers entstanden sind und die Arbeitnehmerin durch freiwilligen "Verzicht" auf den Sonderurlaub dem Entfall der Schwerbehinderteneigenschaft Rechnung getragen hat - so ist eine ohne vorherige Abmahnung ausgesprochene außerordentliche oder ordentliche Kündigung unverhältnismäßig.

 

Normenkette

BGB §§ 626, 241; KSchG § 1

 

Verfahrensgang

ArbG Kassel (Entscheidung vom 10.09.2015; Aktenzeichen 9 Ca 30/15)

 

Tenor

Die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Kassel vom 10. September 2015 - 9 Ca 30/15 - wird zurückgewiesen.

Das beklagte Land hat die Kosten der Berufung zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen fristlosen sowie einer hilfsweise ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung und um Weiterbeschäftigung.

Die Klägerin ist am xx.xx.1964 geboren, ledig und einem Kind zum Unterhalt verpflichtet. Die Klägerin ist seit dem 17. August 2009 aufgrund eines Arbeitsvertrages vom selben Tage bei dem beklagten Land als Angestellte beschäftigt. Sie erhält eine Vergütung gemäß Entgeltgruppe 11 TV-H. Das Arbeitsverhältnis der Parteien richtet sich nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst des Landes Hessen (TV-H). Ergänzend wird auf den gesamten Inhalt des Arbeitsvertrages der Parteien Bezug genommen (Bl. 293 - 297 d. A.). Bei Abschluss des Arbeitsvertrages war bei der Klägerin ein Grad der Behinderung von 60 festgestellt. Die Klägerin legte dem beklagten Land zu Beginn der Beschäftigung ihren Schwerbehindertenausweis vor, der dies entsprechend auswies. In den Jahren 2009 und 2010 nahm die Klägerin den Zusatzurlaub aufgrund der Schwerbehinderung in Anspruch.

Das beklagte Land eröffnete seinen Mitarbeitern im Beschäftigungsbereich der Klägerin ab 2011 die Möglichkeit, einen Antrag auf Teilnahme an Telearbeit zu stellen. Dies musste auf einem Antragsformular beantragt werden, auf dem auch der Grund für den Antrag anzugeben war. In einer weiteren Rubrik wurde dazu aufgefordert, aus einer Liste von sozialen und familiären Gründen die zutreffenden anzukreuzen. Die Bewilligung erfolgte jeweils für einen Zeitraum von zwei Jahren. Mit Schreiben vom 20. Oktober 2010 stellte die Klägerin einen Antrag auf alternierende Telearbeit ab dem 01. Januar 2011. Sie beantragte Telearbeit für zwei von acht Arbeitsstunden täglich (von 14:00 Uhr - 16:00 Uhr). Als Grund für ihren Antrag gab sie an, ihr Kind sei nicht betreut. In der Rubrik zu den sozialen und familiären Gründen kreuzte die Klägerin als zutreffend u. a. folgende Gründe an:

Betreuung von Kindern bis 14 Jahre

Alleinerziehend

Schwerbehinderung.

Die Klägerin vermerkte handschriftlich "60 %" bei dem Punkt "Schwerbehinderung". Hinsichtlich der Einzelheiten wird ergänzend auf Bl. 38 - 40 d. A. Bezug genommen.

Mit Bescheid des hessischen Amtes für Versorgung Kassel vom 17. November 2010 wurde bei der Klägerin ein Grad der Behinderung von nunmehr 40 festgestellt. Ende 2010 rief die Klägerin bei der Mitarbeiterin der Personalabteilung Frau A an. In diesem Telefonat teilte die Klägerin jedenfalls mit, sie wolle ihren Zusatzurlaub aufgrund der Schwerbehinderung ab dem Jahr 2011 von fünf auf drei Tage verkürzen. Die weiteren Einzelheiten des Gespräches sind zwischen den Parteien im Streit. Frau A vermerkte im Anschluss an das Gespräch auf der Urlaubskarte der Klägerin die Reduzierung auf drei Tage Zusatzurlaub mit dem Hinweis "auf Wunsch von Frau B gekürzt". Einen aktuellen Nachweis über den Grad der Behinderung verlangte Frau A von der Klägerin nicht.Mit Schreiben vom 21. April 2011 (Bl. 41 d.A.) teilte das beklagte Land der Klägerin mit, dass ihrem Antrag auf Teilnahme an der alternierenden Telearbeit vom 01. Januar 2011 bis 31. Dezember 2012 ent...

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