Entscheidungsstichwort (Thema)
Abgestufte Darlegungslast des Arbeitnehmers bei bestrittener Fortsetzungserkrankung. Untauglichkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zum Nachweis der Fortsetzungserkrankung. Pflicht zur Angabe aller Erkrankungen durch Arbeitnehmer bei bestrittener Fortsetzungserkrankung. Verwendung von Gesundheitsdaten nach Art. 9 DSGVO bei Arbeitsunfähigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Ist der Arbeitnehmer innerhalb der Zeiträume des § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 EFZG länger als sechs Wochen arbeitsunfähig, ist die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht ausreichend, weil sie keine Angaben zum Bestehen einer Fortsetzungserkrankung enthält. Der Arbeitnehmer muss deshalb darlegen, dass keine Fortsetzungserkrankung vorliegt. Hierzu kann er eine ärztliche Bescheinigung vorlegen. Bestreitet der Arbeitgeber das Vorliegen einer neuen Krankheit, obliegt dem Arbeitnehmer die Darlegung der Tatsachen, die den Schluss erlauben, es habe keine Fortsetzungserkrankung vorgelegen (Anschluss an BAG 31. März 2021 - 5 AZR 197/20 - NZA 2021, 1041).
2. Um dieser abgestuften Darlegungslast gerecht zu werden, muss der Arbeitnehmer grundsätzlich zu allen Krankheiten im Jahreszeitraum substantiiert vortragen. Er kann nicht eine „Vorauswahl“ treffen und nur zu denjenigen Erkrankungen vortragen, die ihm als möglicherweise einschlägig erscheinen.
3. Diese prozessuale Obliegenheit berührt zwar das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Arbeitnehmers, sie ist aber nach der DSGVO und dem BDSG gerechtfertigt. In § 9 Abs. 2 Buchst. f DSGVO wird die Verarbeitung von Gesundheitsdaten gestattet, wenn sie zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen oder bei Handlungen der Gerichte im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit erforderlich ist. Die Erhebung von Gesundheitsdaten ist erforderlich, um im Rahmen eines gerichtlichen Prozesses zu materiell zutreffenden Ergebnissen zu kommen.
Normenkette
EFZG § 3 Abs. 1 S. 2; DSGVO Art. 9 Abs. 1 Buchst. f); BDSG § 26 Abs. 3; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1; SGB X § 69 Abs. 4; BDSG § 22; GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 91 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 09.06.2021) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 9. Juni 2021 – 14 Ca 9427/20 – abgeändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
Der Kläger arbeitete bei der Beklagten seit dem 27. Januar 2012 in der Gepäckabfertigung. Der Stundenlohn betrug 12,56 Euro. Er war mit einer wechselnden Stundenzahl pro Tag zwischen 6,25 bis 7,75 Stunden eingeteilt.
Die Beklagte ist ein Unternehmen, welches Bodendienstleistungen am Flughafen in A erbringt.
Die Beklagte leistete Entgeltfortzahlung bis einschließlich 13. August 2020. Der Kläger war in den Kalenderjahren 2019 und 2020 im erheblichem Umfang arbeitsunfähig erkrankt. In dem Zeitraum ab dem 24. August 2019 bis zum 30. Dezember 2019 war er an 68 Kalendertagen erkrankt. In dem Zeitraum vom 1. Januar 2020 bis 18. August 2020 war er an 42 Kalendertagen erkrankt. Hinsichtlich der genauen Aufstellung der Zeiten der Arbeitsunfähigkeit wird verwiesen auf den Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 9. März 2021 (Bl. 26 f. der Akte).
Der Kläger macht Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall an den folgenden Tagen geltend, wobei er an diesen Arbeitstagen unstreitig arbeitsunfähig erkrankt war und eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt hat:
18. August 2020 |
19. August 2020 |
22. August 2020 |
23. August 2020 |
24. August 2020 |
29. August 2020 |
31. August 2020 |
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11. September 2020 |
22. September 2020 |
23. September 2020 |
Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (jeweils Erstbescheinigungen) umfassten teilweise mehrere Tage, so die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 18. August 2020, die auch den 19. August 2020 umfasste, sowie die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 22. August 2020, die bis zum 24. August 2020 ging.
Die Beklagte hat sich an die Krankenkasse des Klägers gewandt. Die Krankenkasse B teilte unter dem 21. Mai 2021 mit, dass nach deren Unterlagen die Erkrankung vom 18. August 2020 bis 19. August 2020 in einem ursächlichen Zusammenhang mit vorhergehenden Erkrankungen gestanden habe, so dass der Anspruch auf Entgeltfortzahlung von 42 Tagen mit dem 20. September 2020 geendet habe (Bl. 50 der Akte). Wegen der weiteren Mitteilungen der B wird verweisen auf Bl. 51 - 55 der Akte.
Der Kläger hat gemeint, er habe Anspruch gegenüber der Beklagten auf Zahlung von Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in dem Zeitraum vom 18. August 2020 bis 23. September 2020 im Umfang von 71,2 Stunden, ergibt 894,27 Euro brutto. Für die Zeiten der krankheitsbedingten Abwesenheit habe er stets ärztliche Atteste vorgelegt. Krankengeld habe er nicht erhalten. Er habe für den streitgegenständlichen Zeitraum Erstbescheinigu...