Entscheidungsstichwort (Thema)
Umdeutung von Prozesshandlungen im Arbeitsgerichtsprozess. Unwirksamkeit von Betriebsvereinbarungen bei Verstoß gegen die Sperrwirkung wegen Tarifvorbehalts. Umdeutung einer unwirksamen Betriebsvereinbarung in eine Gesamtzusage oder in gebündelte Vertragsangebote. Keine Sperrwirkung bei Angelegenheiten der zwingenden Mitbestimmung des Betriebsrats. Betriebliche Übung als Anspruchsgrundlage im Arbeitsrecht
Leitsatz (redaktionell)
1. Auch im Verfahrensrecht gilt entsprechend § 140 BGB der Grundsatz, dass eine fehlerhafte Prozesshandlung in eine zulässige und wirksame umzudeuten ist, wenn deren Voraussetzungen eingehalten sind, die Umdeutung dem mutmaßlichen Parteiwillen entspricht und kein schutzwürdiges Interesse des Gegners entgegensteht, So kann eine wegen Fristversäumnis unzulässige Berufung in eine Anschlussberufung umgedeutet werden.
2. Nach § 77 Abs. 3 BetrVG können Arbeitsbedingungen, welche durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein, sofern dies nicht ausdrücklich zugelassen ist. Für die Tarifsperre nach § 77 Abs. 3 BetrVG kommt es grundsätzlich nicht auf eine Tarifbindung des Arbeitgebers an. Entscheidend ist, ob der Betrieb einer Branche angehört, für die ein Tarifvertrag entsprechend des fachlichen Geltungsbereichs besteht.
3. Ausnahmsweise kann eine nach § 77 Abs. 3 BetrVG unwirksame Betriebsvereinbarung entsprechend § 140 BGB in eine vertragliche Einheitsregelung (Gesamtzusage oder gebündelte Vertragsangebote) umgedeutet werden. An eine solche Umdeutung sind allerdings strenge Anforderungen zu stellen. Sie kommt nur in Betracht, wenn besondere Umstände die Annahme rechtfertigen, der Arbeitgeber habe sich unabhängig von den Regelungen der Betriebsvereinbarung auf jeden Fall verpflichten wollen, den Arbeitnehmern die in der unwirksamen Betriebsvereinbarung vorgesehenen Leistungen zukommen zu lassen.
4. Die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG tritt in den Bereichen eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers nur insoweit ein, wie der betreffende Regelungsgegenstand nicht der zwingenden Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 BetrVG unterliegt.
5. Die betriebliche Übung ist ein gleichförmiges und wiederholtes Verhalten des Arbeitgebers, das geeignet ist, vertragliche Ansprüche auf eine Leistung oder eine sonstige Vergünstigung zu begründen, wenn die Arbeitnehmer aus dem Verhalten des Arbeitgebers schließen dürfen, ihnen werde die Leistung oder Vergünstigung auch zukünftig gewährt. Allerdings entsteht eine betriebliche Übung dann nicht, wenn der Arbeitgeber zu den zu ihrer Begründung angeführten Verhaltensweisen durch andere Rechtsgrundlagen verpflichtet war.
Normenkette
BetrVG § 77 Abs. 3, § 87 Abs. 1; BGB § 140; ZPO § 524; BGB §§ 611a, 612; GMTV Eisen-, Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen § 2 Fassung: 1997-01-01; MTV Eisen-, Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen § 2 Fassung: 2005-07-20
Verfahrensgang
ArbG Frankfurt am Main (Urteil vom 06.06.2018; Aktenzeichen 9 Ca 6/18) |
Nachgehend
Tenor
Die Beklagte wird verurteilt, 210,65 Plusstunden in das Arbeitszeitkonto des Klägers einzustellen.
Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens haben der Kläger 85 % und die Beklagte 15 % zu tragen. Von den Kosten des Berufungsverfahrens haben der Kläger 84 % und die Beklagte 16 % zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über Vergütungsansprüche, ein Arbeitszeitkonto sowie über Ansprüche auf Zahlung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld.
Der Kläger ist seit dem 11. Oktober 1999 auf Grundlage eines schriftlichen Arbeitsvertrages vom 11. Oktober 1999 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin als Maschinenbediener beschäftigt. In dem zugrunde liegenden Arbeitsvertrag ist unter anderem folgendes geregelt:
„…
3. Vergütung
Der Mitarbeiter erhält einen monatlichen Bruttomonatslohn auf der Basis von 163,13 Stunden in Höhe von:
Tarifgrundlohn in Lohngruppe VI DM 3.250,08
…
Der Mitarbeiter erklärt sich bereit, in 2 bzw. 3 Schichten zu arbeiten. Die Arbeitszeit richtet sich nach den innerbetrieblichen Regelungen.
4. Weihnachtsgratifikation
Der Mitarbeiter erhält eine Weihnachtsgratifikation nach den betrieblichen Regeln
5. Urlaubsanspruch/Urlaubsgeld
…
Es wird ein zusätzliches Urlaubsgeld nach den betrieblichen Regeln gezahlt. Bei Eintritt im laufenden Kalenderjahr wird das Urlaubsgeld ebenfalls anteilig berechnet.
…
11. Wahrnehmung des Aufgabenbereichs/Regelmässige Arbeitszeit
…
Die regelmäßige tägliche Arbeitszeit richtet sich nach der jeweils gültigen Regelung.
…“
Wegen des weiteren Inhalts wird auf den Arbeitsvertrag vom 11. Oktober 1999, Bl. 45 bis 49 d. A., Bezug genommen.
Der Betrieb der Beklagten befindet sich im räumlichen und fachlichen Anwendungsbereich der Tarifverträge für die Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen. Die Beklagte ist nicht tarifgebunden. Sie hat i...