Entscheidungsstichwort (Thema)
Dringende betriebliche Erfordernisse zur Rechtfertigung einer betriebsbedingten Kündigung. Voraussetzungen eines Gemeinschaftsbetriebs. Keine Unwirksamkeit der Kündigung bei fehlenden Angaben nach § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG in der Massenentlassungsanzeige
Leitsatz (amtlich)
Bei § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG handelt es sich um eine Sollvorschrift. Das Fehlen der dort genannten Angaben in der Massenentlassungsanzeige lässt die wirksamkeit der Kündigung unberührt (Anschluss an BAG 19. Mai 2022 - 2 ARZ 424/21).
Leitsatz (redaktionell)
1. Dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG liegen vor, wenn die Umsetzung einer unternehmerischen Entscheidung auf der betrieblichen Ebene spätestens mit Ablauf der Kündigungsfrist zu einem voraussichtlich dauerhaften Wegfall des Bedarfs an einer Beschäftigung des betroffenen Arbeitnehmers führt. Die entsprechende Prognose muss schon im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung objektiv berechtigt sein.
2. Ein Gemeinschaftsbetrieb liegt vor, wenn die in einer Betriebsstätte vorhandenen materiellen und immateriellen Betriebsmittel für einen einheitlichen arbeitstechnischen Zweck zusammengefasst, geordnet und gezielt eingesetzt werden und der Einsatz der menschlichen Arbeitskraft von einem einheitlichen Leitungsapparat gesteuert wird. Hierzu müssen sich die beteiligten Unternehmen zumindest stillschweigend zu einer gemeinsamen Führung rechtlich verbunden haben.
Normenkette
KSchG §§ 1, 17; BGB § 613a; KSchG § 1 Abs. 1-2, § 17 Abs. 3 S. 5; BGB § 134; ZPO § 343
Verfahrensgang
ArbG Frankfurt am Main (Aktenzeichen 11 Ca 4532/19) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 16. September 2020 – 11 Ca 4532/19 – teilweise abgeändert und das Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 5. Februar 2020 auch aufrechterhalten, soweit hierdurch die gegen sie gerichtete Kündigungsschutzklage abgewiesen worden ist.
Die Kosten des Rechtsstreits – einschließlich der Kosten der Revision – hat die Klägerin zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz zuletzt noch um die Wirksamkeit einer ordentlichen, aus betriebsbedingten Gründen ausgesprochenen Kündigung der ursprünglichen Beklagten zu 1) (künftig: Beklagte). Erstinstanzlich hat die Klägerin noch zwei weitere Unternehmen unter dem Gesichtspunkt des § 613a BGB verklagt und ist insoweit unterlegen.
Die zunächst gegen die ursprünglichen Beklagten zu 2) und zu 3) eingelegte Berufung hat die Klägerin zurückgenommen.
Die Klägerin war bei der Beklagten aufgrund schriftlichen mit der Rechtsvorgängerin der Beklagten geschlossenen Arbeitsvertrags (von der Klägerin nur in englischer Sprache zur Akte gereicht, Bl. 42 der Akte) seit dem 1. April 1998 zuletzt als Mitarbeiterin im Processing mit einem durchschnittlichen Bruttomonatslohn von € 4.582,50 tätig.
Die Beklagte erbrachte als konzerninterne Servicegesellschaft jedenfalls bis zum 31. Dezember 2019 aufgrund bestehender Dienstleistungsverträge Dienstleistungen für die A. Diese vertreibt weltweit auf einer Vielzahl von B Neu- und Gebrauchtfahrzeuge an Angehörige des C und der D. Insoweit schloss die Beklagte am 1. Januar 2011 Dienstleistungsverträge mit der E, der in der Berufungsinstanz nicht mehr beteiligten ursprünglichen Beklagten zu 2), der F, und der G ab.
Die Beklagte, eine GmbH i.L, beschäftigte regelmäßig 21 Mitarbeiter am Standort H sowie weitere Mitarbeiter an anderen Standorten sowie im Home-Office. Ein Betriebsrat besteht nicht.
Am 11. Juni 2019 beantragte die Beklagte die Eintragung der Auflösung der Gesellschaft und die Bestellung der Liquidatoren im Handelsregister (Bl. 82 d.A.). Unter dem gleichen Datum reichte sie bei der Agentur für Arbeit Jpersönlich eine schriftliche Massenentlassungsanzeige ein (Bl. 87 ff. der Akte), die dort am 18. Juni 2019 um 9:17 Uhr eingegangen ist. Wegen des Inhalts der Massenentlassungsanzeige wird auf Bl. 87 ff. der Akte Bezug genommen.
Die Agentur für Arbeit J bestätigte mit Schreiben vom 18. Juni 2019 (Bl. 93 d.A.), dass die Entlassungsanzeige am 18. Juni 2019 vollständig eingegangen sei und teilte mit, die gemäß § 18 Abs. 1 KSchG festzusetzende Entlassungssperre ende am 18. Juli 2019.
In der Zeit vom 18. Juni 2019 (einschließlich) bis zum 18. Juli 2019 kündigte die Beklagte insgesamt mindestens 16 Arbeitsverhältnisse, darunter das der Klägerin. Am 18. Juni 2018 fand bei der Beklagten im Betrieb in H eine Betriebsversammlung statt. Bei dieser informierte die Beklagte die Belegschaft über die beabsichtigte Stilllegung des Betriebs. Mindestens acht Kündigungen wurden im Rahmen der Betriebsversammlung gegen 14:00 Uhr an die Arbeitnehmer übergeben.
Das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin kündigte die Beklagte zum 31. Januar 2020 (Bl. 9 ff. der Akte). Die deutsche Version des Schreibens trägt das Datum 18. Juni 2019, in der englischen Version des gleichen Schriftstücks ist handschriftlich der 19. Juni 2020 als Ausstell...