Entscheidungsstichwort (Thema)
Massenentlassungsanzeige. Betriebsratsanhörung
Leitsatz (redaktionell)
Erklärt der Betriebsrat in einem Interessenausgleich, das Anhörungsverfahren gem. § 102 BetrVG sei abgeschlossen, stellt dies regelmäßig keine Vorratserklärung für Wiederholungskündigungen dar.
Orientierungssatz
1. Eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige führt zur Unwirksamkeit der Kündigung.
2. Eine Erklärung des Betriebsrats in einem Interessenausgleich, das Anhörungsverfahren gemäß § 102 BetrVG sei damit abgeschlossen, stellt regelmäßig keine Vorratserklärung für Wiederholungskündigungen (hier: wegen fehlerhafter Massenentlassungsanzeige) dar
Normenkette
KSchG § 1 Abs. 5, § 17; BetrVG § 102
Verfahrensgang
ArbG Gießen (Urteil vom 03.09.2009; Aktenzeichen 1 Ca 218/09) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 03. September 2009 – 1 Ca 218/09 – abgeändert.
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis weder durch die Kündigung der Beklagten vom 27. März 2009 noch durch die Kündigung der Beklagten vom 31. März 2009 aufgelöst worden ist. Im Übrigen werden die Feststellungsanträge zurückgewiesen.
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger zu den bisherigen Vertragsbedingungen als Fotosetzer bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsrechtsstreits weiter zu beschäftigen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagte zu 4/5, der Kläger zu 1/5.
Die Revision wird für die Beklagte zugelassen, für den Kläger nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beklagte betreibt am Standort A eine Druckerei mit 44 Arbeitnehmern. Die Beklagte wendet in ihrem Betrieb den Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Druckindustrie im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland an. Wegen der persönlichen Daten des Klägers wird auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung verwiesen.
Unter dem Datum des 24. März 2009 schlossen die Beklagte und der in ihrem Betrieb gebildete Betriebsrat einen Interessenausgleich sowie einen Sozialplan ab. Der Interessenausgleich sieht im § 1 eine Reduzierung des Personalbestands um 11 Mitarbeiter auf 33 Arbeitnehmer vor. Dies soll durch den Abbau der Abteilungsleiterebene um zwei technische Angestellte sowie durch den Abbau des Personalbestands um weitere neun Mitarbeiter erreicht werden. § 2 regelt, dass den betroffenen Mitarbeitern betriebsbedingte Beendigungskündigungen unter Beachtung der jeweils geltenden Kündigungsfristen ausgesprochen werden sollen und dass die Sozialauswahl zwischen den vergleichbaren Mitarbeitern abteilungsbezogen nach Berufsgruppen erfolgt. Die Sozialauswahl soll im Übrigen nach einem Punktesystem erfolgen. In § 3 des Interessenausgleichs heißt es, dass der Betriebsrat im Rahmen der Interessenausgleichsverhandlungen auch gemäß § 17 Abs. 2 KSchG rechtzeitig schriftlich unterrichtet wurde und dieser Interessenausgleich zugleich als Stellungnahme des Betriebsrats nach § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG gilt. Dem Interessenausgleich angefügt ist als Anlage 1 eine Liste, in der die 11 betroffenen Arbeitnehmer namentlich benannt sind. Die Anlage 2 zum Interessenausgleich enthält die Namen sämtlicher 44 Arbeitnehmer. Im zeitgleich abgeschlossenen Sozialplan ist die Zahlung von Abfindungen geregelt.
Mit Schreiben vom 27. März 2009 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger ordentlich fristgemäß mit Wirkung zum 31. Oktober 2009. Mit Schreiben vom 31. März 2009 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger erneut ordentlich fristgemäß mit Wirkung zum 31. Oktober 2009. Beide Kündigungsschreiben enthalten einen übereinstimmenden Text. Mit Schreiben vom 1. April 2009 bestätigte die Agentur für Arbeit B der Beklagten, dass ihre Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 KSchG am 27. März 2009 unvollständig und somit unwirksam eingegangen sei. Die fehlende Anlage zur Anzeige von Entlassungen sei am 31. März 2009 telefonisch nach Rücksprache ergänzt worden, sodass ab diesem Tag eine vollständige Anzeige vorliege.
Mit seiner am 16. April 2009 bei Gericht eingegangenen Klage hat sich der Kläger gegen die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses gewandt. Er ist der Auffassung gewesen, die Beklagte habe nicht ausreichend dargelegt, dass dem Interessenausgleich eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG zugrunde liege. Er ist des Weiteren der Ansicht gewesen, für die Kündigung läge kein ausreichender betriebsbedingter Kündigungsgrund im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG vor. Dies ergebe sich aus dem Umstand, dass die Auftragslage bei der Beklagten ohnehin ständig schwanke, so dass es immer Phasen gebe, in denen es weniger zu tun gebe und dann auch wieder Auftragsspitzen. Diese schwankende Auftragslage bestehe seit längerer Zeit unverändert. Eine Reduzierung der Belegschaft um rund ¼ sei bei gleichbleibender Auftragslage nicht möglich. Dies gelte insbesondere für den Bereich des Satzes, in dem aufgrund der vorgenommenen Kündigungen pro Woche ca. 160 Arbeitsstunden entfielen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass in der Vergangenheit sogar hin und wiede...