Entscheidungsstichwort (Thema)
Urlaubsabgeltungsanspruch bei andauernder Arbeitsunfähigkeit nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Abgeltung des Zusatzurlaubs nach § 125 SGB 9
Leitsatz (redaktionell)
Zusatzurlaub für Schwerbehinderte verfällt auch bei langandauernder Krankheit nach Maßgabe des § 7 Abs. 3 BUrlG, wenn im Einzelfall keine günstigere Regelung gilt.
Orientierungssatz
1. Im Wege richtlinienkonformer Auslegung des § 7 Abs 3 und 4 BUrlG ist davon auszugehen, dass ein Urlaubsanspruch in Fällen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit, die bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraums andauert, nicht erlischt und bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch nicht an die Erfüllbarkeit des Urlaubsanspruchs bei hypothetisch fortgedachtem Arbeitsverhältnis gebunden ist. Abgeltung des Zusatzurlaubs nach § 125 SGB 9.
2. Dies gilt nicht für den Zusatzurlaub für Schwerbehinderte. Der Zusatzurlaub nach § 125 SGB 9 unterliegt den allgemeinen Grundsätzen des Urlaubsrechts. Fehlt es an einer günstigeren Regelung, verfällt ein Zusatzurlaub nach § 125 SGB 9 wie der Urlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz mit dem laufenden Urlaubsjahr, im Falle der gesetzlichen Übertragung spätestens mit dem 31.03. des Folgejahrs (- siehe dazu Urteil des BAG vom 13.12.2011 - 9 AZR 399/10).
Normenkette
BUrlG § 7 Abs. 3-4; SGB IX § 125 Abs. 1 S. 1; EGRL 88/2003 Art. 7 Abs. 1-2
Verfahrensgang
ArbG Fulda (Urteil vom 13.11.2009; Aktenzeichen 1 Ca 431/09) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichtes Fulda vom 13. November 2009 – 1 Ca 431/09 – teilweise abgeändert und die Beklagte verurteilt, an den Kläger 756,14 EUR (in Worten: Siebenhundertsechsundfünfzig und 14/100 Euro) brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15. Juli 2009 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung der Beklagten und die Berufung des Klägers werden zurückgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte 12,5 % und der Kläger 87,5 % zu tragen.
Die Revision wird für beide Parteien zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über Urlaubsabgeltungsansprüche.
Der schwerbehinderte Kläger war seit dem 01. Juni 1978 bis zum 30. April 2006 bei der Beklagten beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden die Regelungen des Manteltarifvertrages für die Kautschukindustrie in Hessen Anwendung.
Dem Kläger stand jährlich ein tariflich geregelter Urlaubsanspruch von 30 Arbeitstagen sowie ein Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen in Höhe von 5 Arbeitstagen zu. Das Arbeitsentgelt des Klägers pro Arbeitstag betrug zuletzt Euro 108,02 brutto. Tariflich ist ein zusätzliches Urlaubsgeld pro Urlaubstag in Höhe von Euro 17,90 brutto geregelt.
Der Kläger konnte wegen Arbeitsunfähigkeit zwei Tage Urlaub des Kalenderjahres 2004, den gesamten Urlaub des Kalenderjahres 2005 und den anteiligen Urlaub des Kalenderjahres 2006 (bis zum 30. April 2006) nicht antreten.
Das Arbeitsverhältnis der Parteien endete am 30. April 2006. Der Kläger bezieht, beginnend mit dem 01. Mai 2006, eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer.
Der Kläger macht nachfolgende Forderungen geltend:
2 Arbeitstage à Euro 108,02 brutto für das Jahr 2004 (= Euro 216,04 brutto)
35 Arbeitstage à Euro 108,02 brutto für das Jahr 2005 (= Euro 3.780,70 brutto)
12 Arbeitstage à Euro 108,02 brutto für das Jahr 2006 (= Euro 1.296,24 brutto)
zusätzliches Urlaubsgeld in Höhe von Euro 17,90 für 49 Arbeitstage (= Euro 877,10 brutto)
Die Forderung hat der Kläger vorprozessual mit Schreiben vom 15. Juli 2009 und prozessual mit der am 12. August 2009 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage geltend gemacht.
Der Kläger hat sich zur Begründung der Klageforderung auf die jüngst zur Frage des Verfalls von Urlaubsansprüchen bei dauernder Arbeitsunfähigkeit ergangenen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesarbeitsgerichts berufen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn Euro 6.170,08 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15. Juli 2009 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesarbeitsgerichts verstoße gegen höherrangiges Recht. Die Entscheidungen seien weder mit der europäischen Norm (Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG vom 04. März 2003) noch mit dem nationalen Bundesurlaubsrecht in Einklang zu bringen. Die durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vorgenommene Rechtsauslegung bedeute eine eigene Rechtsetzung, ohne dass diese dem Europäischen Gerichtshof übertragen worden wäre. Des Weiteren hätte – selbst bei Unterstellung, dass sich der Europäischen Gerichtshof im Rahmen seiner Kompetenzen bewegt – eine Übertragung in nationales Recht durch den Gesetzgeber erfolgen müssen und nicht durch nationale Gerichte. Die Beklagte meint im Übrigen, dass jed...