Entscheidungsstichwort (Thema)
Anrechnung eines böswillig unterlassenen, anderweitigen Zwischenverdienstes auf die Annahmeverzugsvergütung. Unzumutbarkeit der Aufnahme einer anderweitigen Arbeit
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Vorschrift des § 615 Satz 2 BGB stellt darauf ab, ob dem Arbeitnehmer nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) sowie unter Beachtung des Grundrechts auf freie Arbeitsplatzwahl (Art. 12 GG) die Aufnahme einer anderen Arbeit zumutbar ist. Eine Anrechnung kommt auch dann in Betracht, wenn die Beschäftigungsmöglichkeit bei dem sich im Annahmeverzug befindlichen Arbeitgeber besteht.
2. Eine Unzumutbarkeit der anderweitigen Arbeit kann sich unter verschiedenen Gesichtspunkten ergeben, etwa aus einem Grund in der Person des Arbeitgebers, der Art der Arbeit oder den sonstigen Arbeitsbedingungen. Erforderlich für die Beurteilung der Böswilligkeit ist stets eine unter Bewertung aller Umstände des konkreten Falls vorzunehmende Gesamtabwägung der beiderseitigen Interessen.
Normenkette
BGB § 615; GG Art. 12 Abs. 1; BGB §§ 242, 275, 611; SGB X § 115; BetrVG § 102 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Wiesbaden (Entscheidung vom 07.02.2019; Aktenzeichen 4 Ca 232/18) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Wiesbaden vom 07.02.2019 – Az.: 4 Ca 232/18 – teilweise abgeändert und die Beklagte über die bereits rechtskräftige Verurteilung hinaus verurteilt,
an den Kläger 33.431,17 € brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 7.800,61 € seit dem 02.06.2018, sowie aus jeweils weiteren 12.815,28 € seit dem 02.07.2018 und dem 02.08.2018 zu zahlen;
an den Kläger 169.649,90 € brutto abzüglich gezahlten Arbeitslosengeldes in Höhe von 28.308,51 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 12.440,53 € seit dem 02.09.2019, sowie aus jeweils weiteren 10.566,78 € seit dem 02.10.2018, 02.11.2018, 02.12.2018 und 02.01.2019, sowie aus jeweils weiteren 10.524,18 € seit dem 02.02.2019, 02.03.2019, 02.04.2019, 02.05.2019, 02.06.2019, 02.07.2019, 02.08.2019 und 02.09.2019, sowie aus weiteren 2.240,30 € seit dem 02.10.2019 zu zahlen.
Von den Kosten der Berufung hat der Kläger 16,5 % und die Beklagte 83,5 % zu tragen.
Die erstinstanzlichen Kosten des Rechtsstreits und die Kosten der Revision hat die Beklagte zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten nach Ergehen einer zweitinstanzlichen Entscheidung und deren teilweiser Aufhebung durch das Bundesarbeitsgericht noch um Ansprüche auf Annahmeverzugslohn infolge einer unwirksamen Versetzung des Klägers und insoweit um Anrechnung böswillig unterlassenen Zwischenverdienstes im Zeitraum vom 14. Mai 2018 bis zum 8. September 2019. Zu diesem Zeitpunkt endete der Annahmeverzug der Beklagten durch Aufnahme einer dem Kläger zugewiesenen Tätigkeit durch diesen. Zwischenzeitlich wurde das Arbeitsverhältnis nach zahlreichen gerichtlichen und außergerichtlichen Auseinandersetzungen aufgrund eines Vergleichs aus dem Februar 2020 zum 30. September 2021 beendet, wobei der vorliegende Rechtsstreit ausdrücklich nicht miterledigt wurde.
Der Kläger ist promovierter Chemiker mit einer Zusatzausbildung als Diplom-Wirtschaftsingenieur und Master Business Administration (MBA). Er war bei der Beklagten, einem Unternehmen, das auf dem Gebiet der Herstellung von Cellulosether tätig ist, bzw. bei deren Rechtsvorgängerin, seit dem 1. Januar 1998 zunächst als Chemiker beschäftigt, bevor er sodann ab dem 1. Oktober 2001 als Betriebsleiter des A-Betriebs der Beklagten in B, C, tätig wurde, in dem im Januar 2018 ca. 65 Produktionsmitarbeiter beschäftigt waren. Dort besteht ein Betriebsrat.
Als Betriebsleiter war der Kläger verantwortlich für die Beachtung von Betreiberpflichten, Anlagensicherheit, Arbeitsschutz, Umweltschutz und Personalangelegenheiten im Betrieb und trug die Verantwortung für die Schaffung der Produktionsvoraussetzungen. Unmittelbare Personalverantwortung übte er nur gegenüber einem Teil der 62 Produktionsmitarbeiter aus, die ihm organisatorisch unterstellt waren. Über die Anzahl des ihm zur Verfügung stehenden Personals konnte der Kläger als Betriebsleiter nicht entscheiden, vielmehr musste er bei Ausscheiden eines Mitarbeiters einen Antrag auf Wiederbesetzung der Position stellen. Einzusetzende Roh-, Betriebs- und Hilfsstoffe im Produktionsverfahren sind dem Betriebsleiter vorgegeben - die Verfahrensparameter der jeweiligen Rezepturen eigenständig über einen engen Rahmen hinaus zu ändern, liegt nicht in ihrer Befugnis. Auch sind dem Betriebsleiter Rezepturen mit Qualitätsvorgaben und die zu produzierende Menge vorgegeben. Die Betriebsleiter der Beklagten sind nicht zur selbständigen Einstellung und Entlassung von Arbeitnehmern berechtigt.
Wegen des Aufgabenbereichs des Klägers als Betriebsleiter im Einzelnen wird auf die Darstellung im Tatbestand des zwischen den Parteien ergangenen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung im hiesigen Verfahren gemachten Urteils des Hessischen Landesarbe...