Entscheidungsstichwort (Thema)
Interessensausgleich mit Namensliste. unterbliebener Hinweis nach § 6 S. 2 KSchG und neue Unwirksamkeitsgründe in dem Berufungsverfahren. Verkennung des Betriebsbegriffs
Leitsatz (amtlich)
Die Verkennung des Betriebsbegriffs führt nur dann zu einer groben Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl nach § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO, wenn die Fehlerhaftigkeit der Bestimmung des auswahlrelevanten Personenkreises bei Zugrundelegung eines fehlerhaften Betriebsbegriffs „ins Auge springend” ist.
Ist ein Hinweis gemäß § 6 S. 2 KSchG im erstinstanzlichen Verfahren nicht erfolgt, so kann auch im Berufungsrechtszug ein weiterer Unwirksamkeitsgrund der Kündigung nachgeschoben werden. Das Landesarbeitsgericht ist in einem solchen Fall nicht verpflichtet, den Rechtsstreit nach § 68 ArbGG an das Arbeitsgericht zurückzuverweisen.
Normenkette
InsO § 125 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 2, 6 S. 2; ArbGG § 68
Verfahrensgang
ArbG Gießen (Urteil vom 05.05.2010; Aktenzeichen 6 Ca 568/09) |
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 05. Mai 2010 – 6 Ca 568/09 – wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer durch den Beklagten ausgesprochenen betriebsbedingten Kündigung.
Der am 09. Februar 1966 geborene und ledige Kläger ist einem Kind zum Unterhalt verpflichtet. Er war seit dem 24. Mai 1994 zunächst bei der A AG, dann bei der A GmbH als Leiter A-Technikcenter (A-TC) in B tätig. Auf den schriftlichen Arbeitsvertrag vom 13. April 1999 / 20. Mai 1999 wird Bezug genommen (Blatt 6 bis 10 der Akte).
Die A GmbH beschäftigte etwa 3.450 Arbeitnehmer. Ein Gesamtbetriebsrat war installiert. In dem A-Technikcenter in Gießen waren 9 Arbeitnehmer beschäftigt, dort war ein örtlicher Betriebsrat gewählt.
Am 01. September 2009 wurde durch Beschluss des Amtsgerichts Essen (Az: 166 IN 119/09) das Insolvenzverfahren über das Vermögen der A GmbH (im Folgenden: Insolvenzschuldnerin) eröffnet. Der Beklagte wurde zum Insolvenzverwalter bestellt.
Der Beklagte entschloss sich zu einer grundlegenden Umstrukturierung der Insolvenzschuldnerin. Dazu führte er mit dem Gesamtbetriebsrat Verhandlungen. Von der geplanten Umstrukturierung war auch das A-Technikcenter (im Folgenden A-TC) in B betroffen. Mit Schreiben vom 15. September 2009 hörte er den örtlichen Betriebsrat zur beabsichtigten Kündigung des Klägers an. Das Anhörungsschreiben war adressiert an eine Frau C, die nicht Mitglied des Betriebsrates war. In dem Anhörungsschreiben führte der Beklagte unter anderem aus, dass unter Bezugnahme auf die insoweit abgeschlossenen Verhandlungen mit dem Gesamtbetriebsrat das Anhörungsverfahren zu der beabsichtigten betriebsbedingten Arbeitgeberkündigung eingeleitet werden solle. Ferner ist in dem Schreiben ausgeführt, dass der Beklagte eine Sozialauswahl unter den Mitarbeitern des A-TC B aufgrund der Betriebsstilllegung nicht durchzuführen bräuchte, da sämtliche Arbeitsverhältnisse zum nächstmöglichen Zeitpunkt gekündigt würden. Wegen der weiteren Einzelheiten des Anhörungsschreibens wird Bezug genommen auf Blatt 60 bis 63 der Akte. Dieses Schreiben wurde noch am gleichen Tag an den zuständigen Betriebsratsvorsitzenden Herrn Norbert Koch weitergeleitet, der per Unterschrift bestätigte, das Anhörungsschreiben am 15. September 2009 empfangen zu haben (Blatt 64 der Akte).
Am 17. September 2009 fasste der örtliche Betriebsrat einen Delegationsbeschluss zu Gunsten des Gesamtbetriebsrats, diesbezüglich wird verwiesen auf Blatt 76 der Akte.
Unter dem Datum des 22. September 2009 vereinbarte der Beklagte mit dem Gesamtbetriebsrat einen Interessenausgleich und Sozialplan mit Namensliste gemäß § 125 InsO. Unter § 2 „Betriebsänderungen” ist dort geregelt, dass der Insolvenzverwalter von den 109 A-Technikcentern 107 bis spätestens 31. Dezember 2009 ersatzlos stilllegen werde. Die zu schließenden „A-TC” seien in einer Anlage 1 zu diesem Interessenausgleich aufgeführt. In dieser Anlage (Blatt 29 der Akte) ist auch das A-TC B benannt. In einer Anlage 2 zu dem Interessenausgleich war eine Namensliste enthalten, in der auch der Kläger namentlich aufgeführt ist (Blatt 30 der Akte). Die Unterschriftsleistung erfolgte am 23. September 2009. Wegen der weiteren Einzelheiten des Interessenausgleichs wird verwiesen auf Blatt 20 bis 30 der Akte.
Mit Schreiben vom 25. September 2009, dem Kläger am nächsten Tage zugegangen, kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31. Dezember 2009. Mit seiner am 19. Oktober 2009 bei Gericht eingegangenen Klage, dem Beklagten am 22. Oktober 2009 zugestellt, hat er Kündigungsschutzklage erhoben.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, dass die betriebsbedingte Kündigung unwirksam sei. Er hat insbesondere gemeint, dass die Betriebsratsanhörung fehlerhaft erfolgt sei. Die Anhörung sei an eine Frau C adressiert gewesen, diese sei, was insoweit unstreitig ist, nie Mitglied ...