Entscheidungsstichwort (Thema)
Merkmale eines Arbeitsverhältnisses. Kein eigener Betriebsbegriff im KSchG. Dringende betriebliche Gründe zur sozialen Rechtfertigung einer betriebsbedingten Kündigung. Darlegungs- und Beweislast für das Fehlen anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeiten
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Arbeitsverhältnis unterscheidet sich von dem Rechtsverhältnis eines selbstständig Tätigen durch den Grad der persönlichen Abhängigkeit, in der sich der Verpflichtete befindet. Arbeitnehmer ist, wer aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist. Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit betreffen.
2. Das KSchG enthält keinen eigenen Betriebsbegriff. Es gilt im Wesentlichen der Betriebsbegriff des § 1 BetrVG. Danach ist der Betrieb die organisatorische Einheit von Arbeitsmitteln, mit deren Hilfe der Arbeitgeber allein oder in Gemeinschaft mit seinen Arbeitnehmern mithilfe von technischen und immateriellen Mitteln einen bestimmten arbeitstechnischen Zweck fortgesetzt verfolgt, der nicht nur in der Befriedigung von Eigenbedarf liegt.
3. Eine Kündigung ist im Sinn von § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt, wenn der Bedarf für eine Weiterbeschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers im Betrieb voraussichtlich dauerhaft entfallen ist. Die Merkmale der „Dringlichkeit“ und des „Bedingtseins“ der Kündigung sind Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
4. Darlegungs- und beweisbelastet für das Fehlen anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeiten ist gem. § 1 Abs. 2 S. 4 KSchG der Arbeitgeber. Beruft sich der Arbeitnehmer auf eine andere Möglichkeit der Weiterbeschäftigung, muss der Arbeitgeber eingehend erläutern, aus welchen Gründen eine Umsetzung nicht in Betracht kam.
Normenkette
KSchG § 1; BGB § 611a; HGB § 84 Abs. 1 S. 2, Abs. 2; ZPO § 167; KSchG § 1 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 Buchst. b), S. 4, § 23; BetrVG § 1
Verfahrensgang
ArbG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 05.12.2019; Aktenzeichen 26 Ca 3842/19) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 05. Dezember 2019, Az. 26 Ca 3842/19 , wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Rechtswirksamkeit einer Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses.
Die Beklagte ist ein Unternehmen der kunststoffverarbeitenden Industrie und Teil eines internationalen Konzerns, dessen Muttergesellschaft, die A (im Folgenden: die Muttergesellschaft), ihren Sitz in den Vereinigten Staaten von Amerika hat, und der in 15 Ländern mit Produktions- und/oder Vertriebsstandorten vertreten ist. Sie unterhält in B eine Betriebsstätte (im Folgenden: der Betrieb), in der mehr als 250 Mitarbeiter/innen beschäftigt sind. Die Mehrheit der Beschäftigten wird von der Beklagten in der Produktion von Aerosolventilen für Spraydosen bzw. in produktionsnahen Arbeitsbereichen (Einkauf, Supply Chain, Qualitätskontrolle, Instandsetzung und Versand) eingesetzt. Daneben existieren im Betrieb noch weitere Arbeitsbereiche, wie etwa eine für den lokalen Vertrieb der Produkte zuständige Abteilung. Die Beklagte generiert mit dem Verkauf von Produkten einen Anteil von ca. 20% der Umsätze des Konzerns.
Der am XX.XX.1968 geborene, verheiratete und 3 Kindern gegenüber zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist diplomierter Betriebswirt und war zunächst im Zeitraum von 2003 bis 2008 bei der Beklagten beschäftigt. Nach einer mehrjährigen Unterbrechung war er sodann ab dem 1. September 2013 bei der Beklagten zunächst als „Regional Manager Europe“ und seit Juni 2015 als „Chief Commercial Officer“ (CCO) beschäftigt. Grundlage der Zusammenarbeit war ein schriftlicher Arbeitsvertrag (Bl. 14ff. der Akte), den die Parteien anlässlich des Funktionswechsels des Klägers in puncto Tätigkeit und Vergütung am 21. Oktober 2015 (Bl. 112 der Akte) mit Wirkung zum 23. Juni 2015 sowie erneut in puncto Vergütung am 13. Mai 2016 (Bl. 114 der Akte) mit Wirkung zum 3. Mai 2016 abänderten, nachdem der Kläger diesbezüglich Verhandlungen insb. mit dem damaligen Inhaber des Konzerns geführt und den Wunsch geäußert hatte, im Vertragsverhältnis mit der Beklagten zu bleiben. Gemäß den arbeitsvertraglichen Vereinbarungen berichtete der Kläger direkt an den Präsidenten und Chief Executive Officer (CEO) der Muttergesellschaft.
Die vom Kläger im Juni 2015 übernommene Funktion des CCO war eine in der globalen, gesellschaftsübergreifenden Matrixorganisation des Konzerns neu geschaffene, mit der eine zentrale Verantwortung für die weltweiten Marketing-, Produktentwicklungs- und Vertriebsaktivitäten des Konzerns verbunden war. Der Kläger hatte als CCO unter anderem folgende Aufgaben:
- die fachliche Führung der weltweiten Marketing- und Vertriebsteams
- die Entwicklung, Koordinierung und Steuerung des weltweiten Markenauftritts und der Marketingstrategie des Konzerns
- die Koordini...