Entscheidungsstichwort (Thema)

Streikaufruf und Schadensersatzansprüche. Drittbetroffenheit und Verschulden der Gewerkschaft. Einstweiliges Verfügungsverfahren auf Streikuntersagung. Anspruch drittbetroffener Fluggesellschaften

 

Leitsatz (amtlich)

1. Im Rahmen der Prüfung von auf den Streikaufruf einer Gewerkschaft gestützten Schadensersatzansprüchen von Drittbetroffenen ist ein Verschulden der Gewerkschaft regelmäßig auszuschließen, wenn ein Antrag des Streikgegners im einstweiligen Verfügungsverfahren auf Streikuntersagung vor dem beabsichtigten Streikbeginn in zwei Instanzen zurückgewiesen worden ist und dabei die Rechtmäßigkeit der Streikforderungen zweitinstanzlich Gegenstand einer umfassenden Prüfung war und der Streik nur wegen kurzfristiger Anrufung des Schlichtungsverfahrens nach Verkündigung der zweitinstanzlichen Entscheidung nicht stattfand.

2. Keine Schadensersatzansprüche durch Streikankündigung drittbetroffener Fluggesellschaften unter den Gesichtspunkten Eigentumsverletzung, unmittelbarer Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, Verletzung von Schutzpflichten aus der Friedenspflicht und sittenwidrige Schädigung.

 

Normenkette

GG Art. 9 Abs. 3; BGB §§ 826, 823 Abs. 1, § 280 Abs. 1, § 328; ZPO § 322; AEUV § 45; GG Art. 12; ETV; VTV

 

Verfahrensgang

ArbG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 16.08.2012; Aktenzeichen 12 Ca 8341/11)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 25.08.2015; Aktenzeichen 1 AZR 875/13)

 

Tenor

Die Berufungen der Klägerinnen gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 16. August 2012 - 12 Ca 8341/11 - werden auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird für die Klägerinnen zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit zwei angekündigten befristeten Streiks.

Die Klägerinnen sind Luftfahrtunternehmen. Der Beklagte ist eine am 9. Juli 2003 gegründete Gewerkschaft, die nach eigenen Angaben etwa 3.400 Beschäftigte, u.a. in den Towern der Flughäfen vertrat.

Der Beklagte hat am 26. Juli 2006 im Zuge der Privatisierung der Flugsicherung mit der A GmbH eine Rahmenvereinbarung abgeschlossen, die in § 6 eine Notdienstvereinbarung vorsieht.

Bei der A GmbH herrschte bis zum 31. Dez. 2011 das sog. Vollkostendeckungsprinzip, das sich aus der VO über die Erhebung von Kosten für die Inanspruchnahme von Diensten und Einrichtungen der Flugsicherung bei An- und Abflug (FSAAKV) ergab ("Die Gebühren sind so zu bemessen, dass der gesamte Aufwand für die Flugsicherung ...gedeckt wird"). Bei der jährlichen Vorausfestlegung wurden auch evtl. Über- oder Unterdeckungen aus dem VorVorjahr berücksichtigt. Ab 1. Jan. 2012 gilt die 15. VO zur Änderung der Flugsicherungs-An- und AbflugkostenVO (Bl. 651, 652 d. A.).

Der Beklagte verhandelte seit dem 11. Februar 2011 mit der A GmbH über einen neuen Eingruppierungstarifvertrag ETV und über die Forderungen bezüglich des Vergütungstarifvertrages (VTV). Den Entwurf eines ETV-E, zu dessen Inhalt auf Anlage K 7 Anlagenband I verwiesen wird, erhielt die A GmbH seitens des Beklagten "in der finalen Version" am 14. Mai 2011, die Forderungen zur Vergütungsrunde wurden ihr am 21. April 2011 (Anlage K 7 a) übermittelt. Der bis dahin bestehende Eingruppierungstarifvertrag 2007 (Anlage K 2) wurde seitens des Beklagten ebenso wie der Vergütungstarifvertrag Nr. 5 (Anlage K 4) mit Schreiben jeweils vom 4. April 2011 (Anlagen K 3 und 5) zum 31. Mai 2011 gekündigt.

Am 9. Juni 2011 hat die Verhandlungskommission des Beklagten die Verhandlungen abgebrochen. Die Tarifkommission des Beklagten hat am 15. Juni das Scheitern der Tarifverhandlungen erklärt. Der Bundesvorstand entschied am 16. Juni 2011, seine Mitglieder zur Urabstimmung aufzurufen, die am 28. Juni 2011 eingeleitet wurde und am 29. Juli 2011 endete. Der Beklagte hatte seine Mitglieder mit Schreiben vom 28. Juni 2011 zur Urabstimmung aufgerufen, das u.a. lautete:

"...

Gegenstand der Urabstimmung sind die Forderungen der B zum Eingruppierungstarifvertrag (ETV), den Vergütungstarifverträgen (VTV, VTV-A) und zum Zulagentarifvertrag (ZTV), welche zeitgleich zum 31. Mai 2011 gekündigt worden waren, was zugleich bedeutet, dass seitdem die Friedenspflicht abgelaufen ist."

Der Beklagte gab am 1. Aug. 2011 bekannt (Anlage K 25), dass bei einer Wahlbeteiligung von 92,12 % der Mitglieder 95,8 % für einen unbefristeten Streik gestimmt hätten. Mit einem ersten Streikaufruf vom 2. Aug. 2011 (Anlage K 26) rief der Bundesvorstand des Beklagten seine Mitglieder für den 4. Aug. 2011 zum Streik auf. Der Streikaufruf lautete auszugsweise:

"...

Die B fordert ALLE tariflich beschäftigten Mitarbeiter der A an sämtlichen Standorten auf, am Donnerstag, den 04. August 2011, in der Zeit 06:00 bis 12:00 Uhr für 6 Stunden die Arbeit niederzulegen.

...

Die B wird genügend Personal zur Erledigung aller Flüge zur Verfügung stellen, die notwendig sind, um die von der B einseitig garantierten Notdienste zu leisten."

Der Beklagte teilte der A GmbH die Streikmaßnahmen wie folgt mit (Anlage K 27):

"...

Der Arbe...

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