Entscheidungsstichwort (Thema)
Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG. Vollzug einer unwirksamen Betriebsvereinbarung. Teilunwirksamkeit einer Betriebsvereinbarung. Verwirkung als Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung. Darlegungs- und Beweislast für die Geltendmachung von Überstunden. Teilweise Parallelentscheidung zu LAG Frankfurt/Main 8 Sa 556/18 v. 30.06.2020
Leitsatz (redaktionell)
1. Nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Dies gilt nach Satz 2 der Vorschrift nur dann nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt. Eine gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG verstoßende Betriebsvereinbarung ist rechtsunwirksam.
2. Vollzieht der Arbeitgeber eine rechtsunwirksame Betriebsvereinbarung, indem er den Arbeitnehmern daraus Leistungen erbringt, ist dieses rein tatsächliche Verhalten allein nicht geeignet, einzelvertragliche Ansprüche der Arbeitnehmer zu begründen. Der Arbeitgeber bringt lediglich zum Ausdruck, dass er in Ausführung der getroffenen Betriebsvereinbarung handelt.
3. Die Tarifwidrigkeit einzelner Regelungen einer Betriebsvereinbarung führt nicht notwendig zu deren gesamten Unwirksamkeit. Nach dem Rechtsgedanken des § 139 BGB ist eine Betriebsvereinbarung nur teilunwirksam, wenn der verbleibende Teil auch ohne die unwirksame Bestimmung eine sinnvolle und in sich geschlossene Regelung enthält.
4. Die Verwirkung ist ein Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB). Mit ihr wird die illoyal verspätete Geltendmachung von Rechten ausgeschlossen. Sie beruht auf dem Gedanken des Vertrauensschutzes und trägt dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit Rechnung.
5. Verlangt der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber Vergütung für Überstunden, obliegt es ihm, darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, dass er Arbeit in einem die Normalarbeitszeit übersteigenden zeitlichen Umfang verrichtet hat und dass die von ihm geleisteten Überstunden angeordnet, gebilligt, geduldet oder jedenfalls zur Erledigung der geschuldeten Arbeit erforderlich waren.
6. Bei der Berechnung der monatlichen Arbeitszeit des Klägers sind die wöchentlich vereinbarten 37,5 Stunden mit 4,35 zu multiplizieren, so dass von 163,125 Monatsstunden auszugehen ist. Denn der ursprünglich geltende Tarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie Hessen berücksichtigte den Faktor 4,35 bei der Entgeltberechnung bereits zum Zeitpunkt der Einstellung des Klägers und kann daher auch bei der Schätzung zugrunde gelegt werden.
Normenkette
ZPO § 308 Abs. 1; BetrVG § 77 Abs. 3, § 87 Abs. 1 Nr. 2; EFZG § 4 Abs. 1a; BUrlG § 11; BGB §§ 139-140, 151, 242, 319; MTV Metall- und Elektroindustrie Hessen § 2 Fassung: 2005-07-20
Verfahrensgang
ArbG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 15.01.2018; Aktenzeichen 9 Ca 2153/17) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufungen des Klägers und der Beklagten wird unter Zurückweisung ihrer Berufungen im Übrigen das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 15. Januar 2018 - 9 Ca 2153/17 - teilweise abgeändert und zur Klarstellung insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger € 524,78 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Januar 2015 zu zahlen.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger € 602,46 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Januar 2016 zu zahlen.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger € 434,44 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Januar 2017 zu zahlen.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger € 358,35 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. September 2017 zu zahlen.
Die Beklagte wird verurteilt, 462,50 Plusstunden in das Arbeitszeitkonto des Klägers einzustellen.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger € 105,35 brutto nebst Zinsen hierauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus € 8,87 brutto seit dem 1. Februar 2014, aus weiteren € 12,26 brutto seit dem 1. März 2014, aus weiteren € 10,18 brutto seit dem 1. Mai 2014, aus weiteren € 22,33 brutto seit dem 1. Juni 2014, aus weiteren € 13,71 brutto seit dem 1. Juli 2014, aus weiteren € 15,99 brutto seit dem 1. August 2014, aus weiteren € 4,51 brutto seit dem 1. September 2014, aus weiteren € 3,48 brutto seit dem 1. November 2014, aus weiteren € 1,50 brutto seit dem 1. Dezember 2014 und aus weiteren € 12,52 brutto seit dem 1. Januar 2015 zu zahlen.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger € 90,70 brutto nebst Zinsen hierauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus € 7,99 brutto seit dem 1. Februar 2015, aus weiteren € 10,58 brutto seit dem 1. März 2015, auf weitere € 5,82 brutto seit dem 1. April 2015, aus weiteren € 12,91 brutto seit dem 1. Mai 2015, aus weiteren €...