Entscheidungsstichwort (Thema)
Abgrenzung außerordentliches und ordentliches Kündigungsrecht. Auslegung eines im Tarifvertrag vorgesehenen Kündigungsrechts. Einhaltung der Ausschlussfrist nach § 314 Abs. 3 BGB. Verwirkung eines Kündigungsrechts
Leitsatz (amtlich)
1. Haben die Tarifvertragsparteien keine Befristung und auch kein Kündigungsrecht vorgesehen, so ist der Tarifvertrag grundsätzlich entsprechend § 77 Abs. 5 BetrVG mit einer dreimonatigen Kündigungsfrist kündbar.
2. Auf eine außerordentliche Kündigung eines Tarifvertrags findet § 314 BGB Anwendung.
3. Ist zweifelhaft, ob die Tarifvertragsparteien ein außerordentliches oder ein ordentliches Kündigungsrecht vereinbart haben, so ist die entsprechende Regelung auszulegen. Kommt die Auslegung nicht zu einem eindeutigen Ergebnis, so ist im Zweifel nur von einem ordentlichen Kündigungsrecht auszugehen.
4. Die Ausübung eines tariflich vorgesehenen Kündigungsrechts unterliegt nach allgemeinen Regeln der Verwirkung gemäß § 242 BGB. An die Erfüllung des so genannten Umstandsmoments sind dabei strenge Anforderungen zu stellen.
Normenkette
BGB §§ 314, 133, 157, 242; BetrVG § 77 Abs. 5; TVG §§ 3, 1
Verfahrensgang
ArbG Kassel (Urteil vom 12.05.2010; Aktenzeichen 9 Ca 52/10) |
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Kassel vom 12. Mai 2010 – 9 Ca 52/10 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um Ansprüche der Klägerin auf Zahlung einer Jahressonderzahlung und einer monatlichen Zulage auf der Grundlage des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst (TVöD).
Die Beklagte ist die Rechtsnachfolgerin der A. Sie betreibt mehrere Kliniken in Hessen. Die A war bis zum Ende 2008 Mitglied des B.
Die am xx geborene Klägerin ist seit dem 01. Mai 1990 auf der Grundlage des Arbeitsvertrags vom 05. April 1990 bei der Rechtsvorgängerin bzw. der Beklagten als Krankenschwester tätig. Nach § 2 des Arbeitsvertrags soll sich das Arbeitsverhältnis nach den Vorschriften des Bundesangestelltentarifvertrags (BAT) vom 23.02.1961 in der für den Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VkA) jeweils geltenden Fassung und den diesen ergänzende oder ersetzende Tarifverträge richten. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Arbeitsvertrags wird verwiesen auf Blatt 6 der Akte. Die Klägerin arbeitete zuletzt in Vollzeit und war in die Entgeltgruppe 8a Stufe 6 TVöD eingruppiert. Sie ist Mitglied der Gewerkschaft D.
Wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten befasste sich der Landkreis E, der einzige Gesellschafter der Rechtsvorgängerin der Beklagten, am 16. Februar 2004 sowie am 22. März 2004 mit der Situation der Kliniken. Hinsichtlich der auszugsweise vorgelegten Sitzungsniederschriften wird verwiesen auf Blatt 129 bis 134 der Akte. Er beschloss ein Rahmensanierungskonzept zu der F, das u.a. die Finanzierung eines Neubaus in G vorsah.
Teil der geplanten Sanierung war auch ein Beitrag seitens der Belegschaft. Am 21. Juli 2004 schlossen der B, die A und die Gewerkschaft D die „Tarifliche Vereinbarung Nr. 761, Bezirklicher Tarifvertrag über einen Beitrag der Arbeitnehmer zur Sanierung der A. Die Tarifliche Vereinbarung sah u.a. eine Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit ohne Lohnausgleich, einen Verzicht auf die Jahressonderzahlung 2006 sowie eine Kürzung der Jahressonderzahlung 2007 und 2008 vor. Im Gegenzug verzichtete die Beklagte auf den Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen. Das Sanierungskonzept sah des Weiteren den Neubau eines Krankenhauses in H als Ersatz der Kliniken in I und J vor. Ferner heißt es in der Tariflichen Vereinbarung auszugsweise:
„§ 4 Verkürzung der Arbeitszeit ohne Entgeltausgleich
(1) Abweichend von § 6 Abs. 1 Satz 1 Buchst. B TVöD in der jeweils geltenden Fassung wird die durchschnittliche regelmäßige Arbeitszeit ausschließlich der Pausen
im Jahr 2006 um wöchentlich ½ Stunde,
im Jahr 2007 um wöchentlich 1 Stunde,
im Jahr 2008 um wöchentlich 1 ½ Stunden
ohne Entgeltausgleich verkürzt. (…)
§ 5 Jahressonderzahlung, Sonderzahlung
(…)
(2) Für das Jahr 2006 werden die Jahressonderzahlung nach § 20 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. A TVÜ-VKA sowie der Erhöhungsbetrag nach § 20 Abs. 3 Nr. 3 TVÜ-VKA nicht gezahlt. (…)
(3) Für die Jahre 2007 und 2008 beträgt die Jahressonderzahlung nach § 20 TVöD
in den Entgeltgruppen 1 bis 8 |
15,84 v.H. |
in den Entgeltgruppen 9 bis 12 |
6,48 v.H. |
(…)
des tariflich maßgebenden Entgelts. (…)
§ 7 Ausschluss von betriebsbedingten Beendigungskündigungen
(1) Die A verzichtet für die Dauer der Laufzeit dieser Tariflichen Vereinbarung auf betriebsbedingte Beendigungskündigungen. (…)
§ 12 In-Kraft-Treten, Laufzeit, Außer-Kraft-Treten
(1) Diese Tarifliche Vereinbarung tritt mit Wirkung vom 01. Juli 2004 in Kraft.
(2) Sie endet mit Ablauf des 31. Dezember 2008, ohne dass es einer Kündigung bedarf.
(3) Wenn der Krankenhausneubau H nicht in das Krankenhausinvestitionsprogramm 2007 bis 2011 des Landes Hessen aufgenommen wird, kann di...