Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen aG. außergewöhnliche Gehbehinderung. Entziehung des Merkzeichens. Weglauftendenz mit Eigengefährdung und Fremdgefährdung. Notwendigkeit der Beförderung in einem Buggy oder Rollstuhl
Orientierungssatz
Aufgrund einer Weglauftendenz des behinderten Kindes mit Gefährdung von sich und anderer Verkehrsteilnehmer ist das Merkzeichen aG (erhebliche Gehbehinderung) nur dann anzuerkennen, wenn das Kind so massiv beeinträchtigt ist, dass es im öffentlichen Bereich nur noch in einem Buggy bzw Rollstuhl transportiert werden muss.
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 27. Februar 2020 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten um die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) sowie die Entziehung des Merkzeichens „aG“.
Mit Bescheid vom 18. September 2014 hatte das beklagte Land bei dem 2012 geborenen Kläger einen GdB von 100 und die Merkzeichen „G“, „B“, „aG“ und „H“ festgestellt für die Behinderung „Trisomie 21“. Aus der gutachterlichen Stellungnahme geht hervor, dass eine ausgeprägte Muskelhypotonie maßgeblich für den GdB und die Merkzeichen war, da der Kläger seinerzeit noch nicht frei stehen und gehen konnte. Eine Nachuntersuchung wurde für September 2016 empfohlen.
Im August 2016 leitete das beklagte Land eine Nachuntersuchung von Amts wegen ein. Zur Akte gelangten Arztbriefe des Zentrums für Kinderheilkunde des UKGM Gießen vom 23. Oktober 2015 und 29. Juli 2016. In letzterem wird ausgeführt, dass der Kläger fast nur noch spreche, Gebärden benutze er keine mehr. Das Laufen und Rennen sei nach wie vor wacklig. Er laufe aber überall frei. Er schaffe keine wirkliche Strecke zu gehen. Ein Spaziergang oder ein Gang in die Stadt sei mit ihm nicht möglich. Das gelte auch im Kindergarten.
Darüber hinaus wurden ein Arztbrief des Mutter-Kind-Kurheims F. in C-Stadt vom 18. September 2016 und der Befundbericht der Augenärzte vom 25. November 2016 vorgelegt. In diesem werden bei dem Kläger Hyperopie, Astigmatismus beidseits und Orthophorie beidseits beschrieben.
In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 13. Januar 2017 wird aufgeführt, dass deutliche Entwicklungsfortschritte im Sinne einer guten sprachlichen und grobmotorischen Entwicklung zu verzeichnen seien. Es liege nach wie vor eine deutliche Diskrepanz zu Gleichaltrigen mit entsprechendem Förderbedarf vor.
Mit Schreiben vom 1. Februar 2017 hörte das beklagte Land den Kläger zur Herabsetzung des GdB auf 80 sowie zur Entziehung des Merkzeichens „aG“ wegen wesentlicher Besserung an.
Durch Bescheid vom 6. März 2017 setzte das beklagte Land den GdB auf 80 herab und erkannte weiterhin die Merkzeichen „G“, „B“ und „H“ an, das Merkzeichen „aG“ wurde mit Wirkung ab 1. April 2017 entzogen.
In dem Bescheid wurden als Behinderungen anerkannt:
Der Kläger legte hiergegen fristgerecht Widerspruch ein und begehrte weiterhin einen GdB von 100 sowie die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“, da weiterhin eine deutliche Sprachentwicklungsverzögerung und erhebliche Entwicklungsrückstände bestünden. Er sei außerdem lediglich in der Lage, eine Wegstrecke von 20 Schritten zu bewältigen. Das Laufen und Rennen sei nach wie vor wackelig. Er werde bei Ausflügen und Spaziergängen mit dem Kinderwagen transportiert. Beigefügt war neben einer Bescheinigung des Kindergartens vom 4. Mai 2017, wonach der Kläger bei Ausflügen mit dem Kinderwagen gefahren werden müsse, eine des behandelnden Kinderarztes vom 9. Mai 2017, aus der hervorgeht, der Kläger leide an einer Gangstörung und es sei den Eltern bei voranschreitender Größe und Gewicht nicht mehr möglich, den Kläger längere Strecken zu tragen.
Nach Einholung einer weiteren vorsorgungsärztlichen Stellungnahme wies das beklagte Land den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 31. Juli 2017 als unbegründet zurück.
Der Kläger hat am 18. August 2017 beim Sozialgericht Gießen (Sozialgericht) Klage erhoben.
Das beklagte Land hat eine Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes vom 24. Januar 2018 übersandt sowie auf richterliche Nachfrage vom 7. Februar 2018 bzgl. des Merkzeichens „aG“ wegen eventueller Weglauftendenz eine weitere Stellungnahme vom 6. April 2018 vorgelegt. In letzterer wird ausgeführt, dass sich aus den medizinischen Unterlagen ergebe, dass eine außergewöhnliche Gehbehinderung auch unter Berücksichtigung der Störung mentaler Funktionen nicht gegeben sei. Die Tatsache, dass der Kläger sehr anstrengend sei und wegen der Weglauftendenzen ständig beobachtet und beaufsichtigt und begleitet werden müsse, werde durch die Zuerkennung der Merkzeichen „H“ und „B“ gewürdigt.
Der Kläger hat des Weiteren noch eine Bescheinigung des Zentrums für Kinderheilkunde des UKGM vom 20. Juni 2018 vorgelegt.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat das Sozialge...