Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen aG. außergewöhnliche Gehbehinderung. erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung. Kind mit Autismus-Spektrum-Störung
Orientierungssatz
Zur Zuerkennung des Merkzeichens aG aufgrund eines schwerstgradig ausgeprägten Autismussyndroms bei einem Kind.
Tenor
1. Der Bescheid des Beklagten vom 24.01.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.03.2017 wird aufgehoben und der Beklagte verurteilt, bei dem Kläger ab Antragstellung (August 2016) das Merkzeichen aG festzustellen.
2. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in gesetzlichem Umfang zu erstatten.
Tatbestand
Im Streit steht die Feststellung des Merkzeichens aG aufgrund einer Autismus-Spektrum-Störung.
Durch Bescheid vom 2.7.2015 hatte der Beklagte bei dem am 15.3.2013 geborenen Kläger einen GdB von 100 und die Merkzeichen G, B und H festgestellt. Als Behinderungen wurden berücksichtigt: „Störungen der körperlichen und geistigen Entwicklung“.
Grundlage waren unter anderem ein Arztbrief des UKGM Gießen vom 7.5.2015 sowie ein Pflegegutachten vom 15.6.2015.
Im August 2016 wurde seitens der gesetzlichen Vertreterin die Feststellung des Merkzeichens aG beantragt, beigefügt waren Arztbriefe des Zentrums für Kinderheilkunde UKGM Gießen vom 22.2.2016, 3.5.2016 und 14.7.2016 sowie das Rezept für einen Reha-Buggy. Zur Akte gelangte außerdem das Pflegegutachten des MDK Hessen vom 2.5.2016, und weitere Arztbriefe des Zentrums für Kinderheilkunde UKGM Gießen vom 14.7.2016 und 7.12.2016.
Durch Bescheid vom 24.1.2017 lehnte der Beklagte danach die Feststellung des Merkzeichens aG ab. Der Kläger legte hiergegen fristgerecht Widerspruch ein und trug vor, er sei dem aG-berechtigten Personenkreis gleichzustellen.
Durch Widerspruchsbescheid vom 24.3.2017 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.
Der Kläger hat hiergegen am 26.4.2017 vor dem Sozialgericht Gießen Klage erhoben.
Der Kläger trägt vor, er sei zwar nicht physisch daran gehindert, sich ohne fremde Hilfe außerhalb eines Kraftfahrzeuges zu bewegen, der bei ihm festgestellte Autismus mit schwerer Verhaltensstörung führe jedoch dazu, dass er von seinen physischen Möglichkeiten keinen Gebrauch machen könne. Er sei den in der Verordnung genannten Beispielserkrankungen daher wegen der identischen Folgen gleichzustellen. Er werde in fremder Umgebung grundsätzlich in einem speziellen Reha-Buggy gefahren.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 24.1.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.3.2017 aufzuheben und bei ihm ab Antragstellung (August 2016) das Merkzeichen aG festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hält die getroffenen Feststellungen für zutreffend. Zumindest in gewohnter Umgebung bewege sich der Kläger frei. Treppensteigen gelinge ihm mit Unterstützung an der Hand.
Das Gericht hat einen Befundbericht des Hausarztes Dr. D. vom 15.6.2017 sowie die (bereits bekannten) Krankenunterlagen des Klägers im Zentrum für Kinderheilkunde des UKGM Gießen beigezogen. Der Kläger hat eine Stellungnahme des Autismus-Therapieinstituts E-Stadt, in dem er seit September 2016 behandelt wird, vom 28.9.2017vorgelegt.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 30.01.2020 hat die Mutter des Klägers verschiedene Fotos vorgelegt, Kopien eines Reha-Antrages für sich sowie den SGB IX-Bescheid bezüglich des Vaters des Klägers, außerdem hat sie eine Videoaufnahme vom Anziehen des Klägers vor dem Gerichtstermin vom Handy abgespielt.
Zum Sach- und Streitstand im Einzelnen wird auf die Gerichtsakte sowie die Schwerbehindertenakte des Klägers bei dem Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, da sie insbesondere form- und fristgerecht vor dem zuständigen Gericht erhoben wurde.
Die Klage ist auch in der Sache begründet.
Die Feststellungen des Beklagten sind insoweit rechtswidrig als der Kläger Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens aG hat.
Gemäß § 152 Abs. 1 des SGB IX in der Fassung des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG / früher § 69 Abs. 1 SGB IX) stellen auf Antrag des behinderten Menschen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung (GdB) fest. Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden auch die hierzu erforderlichen Feststellungen (§ 152 Abs. 4 SGB IX/BTHG-Fassung).
Haben die oben genannten Behörden schon Feststellungen nach § 152 Abs. 1 des SGB IX getroffen, so ist gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - 10. Buch - SGB X der Verwaltungsakt mit Dauerwirkung auf Antrag oder von Amts wegen mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen hab...