Entscheidungsstichwort (Thema)
Interessenabwägung bei Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen ergangenen Bescheid
Orientierungssatz
1. Erweist sich ein ursprünglich rechtmäßiger Bescheid in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid erhalten hat, als rechtswidrig, so kommt für die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides in Betracht.
2. Die Entscheidung nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG erfolgt auf der Grundlage einer Interessenabwägung. Im Rahmen dieser Interessenabwägung kommt den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache eine wesentliche Bedeutung zu.
3. Bei Verwaltungsakten nach § 39 Nr. 1 SGB 2 kommt aufgrund einer typisierenden Abwägung der Individual- und öffentlichen Interessen dem Öffentlichen Interesse am Sofortvollzug prinzipiell Vorrang gegenüber den entgegenstehenden privaten Interessen zu. Eine Ausnahme davon kommt nur in Betracht, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides bestehen oder wenn ausnahmsweise besondere private Interessen überwiegen.
Normenkette
SGG § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2, § 54 Abs. 1 S. 1; SGB II § 39 Nr. 1
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 10. Oktober 2016 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Gründe
Die am 1. November 2016 beim Sozialgericht Gießen eingegangene Beschwerde des Antragstellers mit dem wörtlichen Antrag,
a) Den Beschluss des Sozialgerichts aufzuheben
b) Den einstweiligen Rechtsschutz wiederherzustellen
c) Den Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 2016 aufzuheben
d) Die aufschiebende Wirkung meines Widerspruches vom 04.06.2016 wiederherzustellen.
e) Die Kosten des Verfahrens dem Beschwerdegegner aufzuerlegen,
hat keinen Erfolg.
Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.
Die Anträge a), b) und d) sind sinngemäß dahin auszulegen, dass der Antragsteller die Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Gießen vom 10. Oktober 2016, die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 4. Juni 2016 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 27. Mai 2016 und die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 22. Juli 2016 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 18. Juli 2016 begehrt. Das Sozialgericht hat insoweit unter Bezugnahme auf verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zwar zutreffend angenommen, dass die aufschiebende Wirkung nicht nur bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides, sondern bis zur Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes fortwirkt. Der Senat weist aber zum einen darauf hin, dass die Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) anders als das Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausdrücklich normiert, dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs und der Anfechtungsklage mit der Unanfechtbarkeit endet (§ 80b Abs. 1 Satz 1 1. Alt. VwGO). Die früher in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte umstrittene Frage, ob die aufschiebende Wirkung bereits mit Erlass der Rechtsbehelfsentscheidung oder erst mit der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes endet (vgl. die Nachweise bei Puttler in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, Fn. 6 zu § 80b Rn. 4), hat der Gesetzgeber mit Einfügung dieser Vorschrift im Sinne der schon bisher vorherrschenden Auffassung entschieden (Puttler, s. o., § 80b Rn. 4). Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass nach Erlass des Widerspruchsbescheides ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs zur Erlangung effektiven Rechtsschutzes jedenfalls dann nicht ausreicht, wenn die Ausgangsentscheidung durch den Widerspruchsbescheid geändert wurde. Erweist sich dann der ursprüngliche Bescheid isoliert betrachtet als rechtmäßig in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid erhalten hat, aber als rechtswidrig, kommt nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides in Betracht. Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor, da die Widersprüche des Antragstellers gegen die Bescheide des Antragsgegners vom 27. Mai 2016 und vom 18. Juli 2016 ohne Änderungen der Verfügungssätze zurückgewiesen wurden.
Soweit der Antragsteller mit seinem Antrag c) die Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 2016 begehrt, ist der Antrag im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes unzulässig, da eine Aufhebung von Bescheiden nur im Hauptsacheverfahren erfolgen kann (vgl. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG). Über die Kosten des Verfahrens (Antrag e) entscheidet das Gericht von Amts wegen.
Die Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 4. Juni 2016 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 27. Mai 2016 und auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 22. Juli 2016 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 18. Juli 2016 sind nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG statthaft, da die Widersprüche nach § 39 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) keine aufschiebende Wirkung entf...