Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Einreise zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Europarechtskonformität. Unterhaltsgewährung von Verwandten. Aufenthaltsrecht
Leitsatz (amtlich)
1. Beruht das Aufenthaltsrecht eines Staatsangehörigen der Tschechischen Republik allein auf dem Zweck der Arbeitsuche, hat er gemäß § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB 2 und gemäß § 23 Abs 3 S 1 SGB 12 keinen Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe.
2. Diese Regelungen befinden sich in Übereinstimmung mit den Regelungen der EGRL 38/2004 und verstoßen nicht gegen Art 12 und Art 18 EG.
Orientierungssatz
1. Als Empfänger von Dienstleistungen sind Unionsbürger gem § 2 Abs 2 Nr 4 FreizügG/EU 2004 freizügigkeitsberechtigt; allerdings müssen sie auch insoweit über die erforderlichen Existenzmittel und eine Krankenversicherung verfügen.
2. Zum Personenkreis der freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger nach § 2 Abs 2 Nr 5 FreizügG/EU 2004 zählt nur, wer aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist, nachdem er zuvor als Arbeitnehmer oder als Selbstständiger erwerbstätig war.
3. Der Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 Abs 1 S 1 FreizügG/EU 2004 kommt lediglich deklaratorische Bedeutung zu.
4. Wird einem ausreisepflichtigen Unionsbürger, der das 21. Lebensjahr überschritten hat, von seinen Eltern Unterhalt gewährt, so erwächst ihm zwar hieraus ein Aufenthaltsrecht nach Art 14 Abs 4 Buchst b EGRL 38/2004, aufgrund des Nachranggrundsatzes und des Wegfalls der Bedürftigkeit bestehen jedoch keine Ansprüche auf Leistungen nach dem SGB 2 bzw SGB 12.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 15. Januar 2008 geändert.
Der Antrag der Antragsteller auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird in vollem Umfang abgelehnt.
Die Beteiligten haben einander in beiden Instanzen keine Kosten zu erstatten.
Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt B., A-Stadt, bewilligt.
Gründe
I.
Die Antragsteller sind Staatsangehörige der Tschechischen Republik und im September 2006 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Die 1980 geborene Antragstellerin zu 2) hat nach ihren Angaben in der Tschechischen Republik die mittlere Reife absolviert, eine Wirtschaftsfachschule ohne Abschluss besucht und als Telefonistin und in der Videoausleihe (zuletzt bis August 2006) gearbeitet. Der Antragsteller zu 1) ist 2001 geboren; der Kindesvater A. zahlt monatlichen Unterhalt in Höhe von 800 Tschechischen Kronen, entsprechend ca. 30 €. Die Antragsteller kamen in die Bundesrepublik Deutschland, da hier die Mutter und die Schwester der Antragstellerin zu 2) leben. Die Mutter und deren Mann finanzierten nach Angaben der Antragstellerin zu 2) für Wohnungsmiete und Lebensunterhalt der Antragsteller monatlich ca. 1.000 €. Eine erlaubte Beschäftigung hat die Antragstellerin zu 2) in der Bundesrepublik Deutschland zwar gesucht, aber bisher nicht gefunden und nicht ausgeübt. Mit Bescheinigung vom 16. Oktober 2006 bestätigte die Antragsgegnerin, dass die Antragstellerin zu 2) Freizügigkeit gemäß § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 13 Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU) bis zum 5. September 2011 genieße und eine unselbständige Beschäftigung nur nach Genehmigung der Bundesagentur für Arbeit gemäß § 284 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB 3) gestattet sei. Mit Bescheid vom 3. April 2007 lehnte die Bundesagentur für Arbeit einen Antrag auf Arbeitserlaubnis für eine Beschäftigung als Eisverkäuferin mit der Begründung ab, dass für die beabsichtigte Beschäftigung deutsche und ihnen gleichgestellte ausländische Arbeitnehmer (bevorrechtigte Arbeitnehmer) zur Verfügung stünden. Mit Bescheid vom 18. April 2007 bewilligte die Antragsgegnerin den Antragstellern Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB 2) für die Zeit von März bis August 2007 in Höhe von monatlich 928,50 €. Mit Bescheid vom 22. Juni 2007 bewilligte die Antragsgegnerin für den genannten Zeitraum höhere Leistungsbeträge. Auf den Fortzahlungsantrag vom 24. Juli 2007 hob die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 23. August 2007 den Bescheid vom 22. Juni 2007 mit Wirkung ab dem 1. September 2007 auf und begründete dies damit, dass die Antragstellerin zu 2) keine gültige Arbeitserlaubnis und damit keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB 2 habe. Hiergegen haben die Antragsteller am 21. September 2007 Widerspruch eingelegt. Die Prozessbevollmächtigten der Antragsteller haben mit Schreiben vom 11. Oktober 2007 unter Bezugnahme auf den Widerspruch die Aufhebung des Bescheides vom 23. August 2007 beantragt. Die Antragsgegnerin hat mit Bescheid vom 22. Oktober 2007 die Aufhebung des angefochtenen Bescheides abgelehnt. Hiergegen haben die Antragsteller vorsorglich erneut Widerspruch eingelegt und um klagefähigen Widerspruchsbescheid gebeten. Nach Aktenlage wurde bisher über beide Widersprüche nicht entschied...