Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Rechtsweg. Streit über berufsrechtliche Pflichten eines Privatarztes. Heranziehung zum Ärztlichen Bereitschaftsdienst. Eröffnung des Sozialrechtswegs. hier: Regelung der Rechtsgrundlagen des Bereitschaftsdienstes auf vertragsarztrechtlicher Grundlage
Leitsatz (amtlich)
Der Sozialrechtsweg ist für Streitigkeiten über die Heranziehung von Privatärzten zum Ärztlichen Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung eröffnet, wenn durch das landesrechtliche Berufsrecht lediglich eine Ermächtigung dafür geschaffen wird, dass der Privatarzt in den Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung integriert wird, im Übrigen aber die Rechtsgrundlagen des Bereitschaftsdienstes auf vertragsarztrechtlicher Grundlage durch Satzungsrecht der Kassenärztlichen Vereinigung ohne Beteiligung der Landesärztekammer geregelt sind.
Nachgehend
Tenor
Auf die Beschwerde der Beklagten wird der Beschluss des Sozialgerichts Marburg vom 11. Mai 2020 aufgehoben und der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit für zulässig erklärt.
Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten bezüglich der Beschwerde hat der Kläger zu tragen.
Die weitere Beschwerde an das Bundessozialgericht wird zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um den Rechtsweg für eine Klage gegen die Heranziehung des Klägers zu Beiträgen zur Finanzierung des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes (ÄBD). Der Kläger ist ein 70 Jahre alter, ausschließlich privatärztlich tätiger, in eigener Praxis niedergelassener Arzt. Mit Bescheid vom 18. September 2019 erhob die Beklagte auf der Grundlage der von ihr erlassenen Bereitschaftsdienstordnung (BDO) Beiträge für die Quartale III/2019 und IV/2019 jeweils in Höhe von 750 €. Der Widerspruch wurde mit Bescheid vom 11. Dezember 2019 zurückgewiesen.
Der Kläger wendet sich mit der am 2. Januar 2020 erhobenen Klage gegen die Heranziehung zum Bereitschaftsdienst als solche und rügt die fehlende Gesetzgebungskompetenz des Landesgesetzgebers zum Erlass von § 23 Nr. 2 Hessisches Heilberufegesetz (HessHBerG). Der Bundesgesetzgeber habe abschließend die Einbeziehung von Nichtvertragsärzten in den Notdienst im Sinne der Berechtigung, aber nicht der Verpflichtung, Gebrauch gemacht. Der Kläger sei nicht Mitglied der Beklagten und unterliege nicht der Aufsicht und dem Disziplinarrecht der Beklagten. Ferner rügt er eine Verletzung des Grundsatzes der Beitragsgerechtigkeit hinsichtlich Grund und Höhe der Beiträge der Beklagten.
Der Kläger ist der Rechtsauffassung, der Verwaltungsrechtsweg sei eröffnet, da es sich um die Rechtsmaterie des ärztlichen Berufsrechts handele und hat die Vorabentscheidung über den Rechtsweg nach § 17a Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) beantragt.
Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 11. Mai 2020 den Rechtsweg zu den Sozialgerichten für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main verwiesen.
Die Beklagte vertritt mit ihrer hiergegen gerichteten, am 4. Juni 2020 eingegangenen Beschwerde die Rechtsauffassung, der Sozialrechtsweg sei eröffnet, da die streitentscheidenden Normen dem Vertragsarztrecht zuzurechnen seien. Die Rechte und Pflichten aus § 23 Nr. 2 HessHBerG würden durch ihre BDO konkretisiert. Das HessHBerG treffe keine Regelungen über das „wie“ der Einbeziehung.
II.
Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist entgegen der Auffassung des Klägers nicht verfristet. Wie die Beklagte im Ansatz zutreffend hervorhebt, sind als Verfahrensvorschriften der „sofortigen Beschwerde“ nach § 17a Abs. 4 Satz 3 GVG die Normen der §§ 172 ff. Sozialgerichtsgesetz (SGG) heranzuziehen, mithin die Frist des § 173 SGG. Dort ist nicht eine Zwei-Wochen-Frist, sondern eine Monatsfrist geregelt. Der Beschluss ist der Beklagten am 13. Mai 2020 zugestellt worden, die Beschwerde ist am Hessischen Landessozialgericht am 4. Juni 2020 eingegangen.
Der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eröffnet.
Die Abgrenzung von § 51 SGG zu § 40 VwGO vollzieht sich bei der Auslegung des Kataloges des § 51 Abs. 1 SGG aufgrund der Funktion des § 51 SGG als abdrängende Sonderzuweisung. Dabei bestehen keine Bedenken gegen eine weite Auslegung des Begriffs der § 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG (Hessisches LSG, Beschluss vom 1. Juni 2010 - L 1 KR 89/10 KL -, juris Rn. 6; auch zum Folgenden: Sodan, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 40 Rn. 481 f.). Die verbreitete Auslegungsregel, Ausnahmevorschriften eng auszulegen, kann bei der Auslegung von abdrängenden Sonderzuweisungen erst dann Bedeutung gewinnen, wenn sich ein bestimmter Wille des Gesetzgebers nicht ermitteln lässt. Rechtswegregelungen sind in besonderem Maße von Zweckmäßigkeitsüberlegungen des Gesetzgebers bestimmt und dienen, basierend auf dem Grundsatz der Gleichwertigkeit aller Gerichtszweige, einer sachgemäßen Arbeitsverteilung unter den verschiedenen Gerichtsbarkeiten (BVerwGE 47, 255 ≪259≫)...