Entscheidungsstichwort (Thema)

Rücknahme des Verwaltungsakts. neue Erkenntnisse. Einholung eines Gutachtens

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Kann der Kläger weder neue Erkenntnisse oder Tatsachen vorbringen noch ergibt die Überprüfung im Klage- und Berufungsverfahren etwas, was für die Unrichtigkeit der Feststellungen im angegriffenen Bescheid sprechen könnte, ist ein Verwaltungsakt nicht nach § 44 SGB X zurückzunehmen.

2. Für die Einholung eines Gutachtens durch das Gericht bedarf es eines ausreichend substantiierten Vortrags. Beweisanregungen, die so unsubstantiiert sind, dass im Grunde erst die Beweisaufnahme selbst die entscheidungs- und damit beweiserheblichen Tatsachen aufdecken soll, sind nicht ausreichend.

 

Normenkette

SGB X §§ 44, 48; SGG §§ 103, 106, 118 Abs. 1 S. 1; ZPO § 412 Abs. 1

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 17.04.2023; Aktenzeichen B 9 V 38/22 B)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 21. März 2022 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch im Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Impfschadens nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG).

Die 1954 geborene Klägerin nahm am 04.05.1995 zusammen mit ihrem Ehemann und zwei ihrer drei Kinder an einer Schluckimpfung gegen Poliomyelitis (Auffrischungsimpfung) mit dem Impfstoff Oral-Virelon T1, Behring-Werke, Charge-Nr. 050061 A, teil. Am 07.05.1995 sind der Klägerin zufolge bei ihr und auch den anderen Familienmitgliedern Beschwerden (Durchfall, Fieber, Kopfweh, Nackensteifigkeit, Schmerzen an der Wirbelsäule u. a.) aufgetreten. Nach Angabe der Klägerin besserten sich die akuten Beschwerden bei ihr nach ca. zehn Tagen wieder. Sie leide jedoch durchgängig seit der Impfung unter neurologischen und orthopädischen Beschwerden.

Der Ehemann der Klägerin verstarb am 25.08.1995. Bezüglich der Frage einer Hinterbliebenenversorgung wegen eines Impfschadens haben die Beteiligten bereits einen Rechtsstreit geführt. Die Klage der Klägerin als Rechtsnachfolgerin wurde in erster Instanz abgewiesen (Sozialgericht Wiesbaden, Urteil vom 14.06.2006, S 7 VI 526/02). Die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung blieb ohne Erfolg; sie wurde durch Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 30.01.2008 zurückgewiesen (L 4 VJ 2/06). Das Landessozialgericht hat in den Entscheidungsgründen ausgeführt: Die Sachermittlungen ergäben, dass weder eine Verunreinigung des Impfstoffes vorgelegen habe, noch dass eine Verunreinigung des Impfstoffs die hochakute lymphatische Erkrankung des Verstorbenen hätte hervorrufen können. Nach den Feststellungen der Sachverständigen sei insbesondere ein Zusammenhang zwischen der Polioimpfung und dem Tod des Ehemannes der Klägerin aufgrund Multiorganversagen bei maligner lymphatischer Erkrankung nicht wahrscheinlich. Es gebe keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass eine Polioimpfung eine Tumorerkrankung hervorrufen könne. Ein möglicherweise vorhandenes malignes Potential des Impfstoffes hätte sich frühestens Jahre bis Jahrzehnte nach der Impfung manifestiert. Die hiergegen gerichtete Beschwerde zum Bundessozialgericht wurde mit Beschluss vom 08.05.2008 als unzulässig verworfen (B 9 VJ 1/08 B).

Im Juli 2008 beantragte die Klägerin als Vertreterin ihrer Kinder C. A. (geb. 1981) und D. A. (geb. 1989) die Versorgung wegen eines Impfschadens infolge der Polioimpfung. Das beklagte Land wies die Anträge jeweils mit Bescheiden vom 07.12.2009 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 11.10.2010 zurück. Die hiergegen erhobenen Klagen wies das Sozialgericht mit Gerichtsbescheiden vom 26.05.2014 zurück (S 7 VE 2/11 und S 7 VE 3/11). Die hiergegen erhobenen Berufungen wies der erkennende Senat mit Urteilen vom 13.06.2018 mit der Begründung zurück, es sei weder eine außergewöhnliche Impfreaktion noch ein Impfschaden nachgewiesen (L 1 VE 2/18 und L 1 VE 3/18).

Ebenfalls am 31.07.2008 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten die Gewährung von Versorgung wegen eines eigenen Impfschadens nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG): Sie leide an Polyarthritis, Osteochondrose, neurologischen Störungen, Vernarbungen des Gehirns, Erschöpfung u.a. Nach Einholung von Befundberichten und einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Internisten G., wonach ein Impfschaden nicht wahrscheinlich sei, lehnte der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 07.12.2009 mit der Begründung ab, dass zwischen den Gesundheitsstörungen der Klägerin und der angeschuldigten Impfung kein Kausalzusammenhang bestehe. Den Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 08.10.2010 zurück. Hiergegen hat die Klägerin unter dem Aktenzeichen S 7 VE 1/11 Klage zum Sozialgericht Wiesbaden erhoben. In diesem Verfahren wurde die Klägerin mit gerichtlichem Schreiben vom 13.01.2012 zum Betreiben des Verfahrens (Übersendung einer Schweigepflicht-Entbindungserklärung) aufgefordert und auf die Rechtsfolge des § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hing...

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