Entscheidungsstichwort (Thema)

Angemessenheit des Umfangs der Hilfe zur Beschaffung eines Kfz als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft

 

Orientierungssatz

1. Der Schwerpunkt der Versorgung mit einem Kraftfahrzeug liegt in der Eingliederung in das Arbeitsleben.

2. Entscheidend ist, ob der behinderte Mensch mit Blick auf das Ziel der Eingliederungshilfe auf ein eigenes Kraftfahrzeug angewiesen ist, wobei einerseits auf die Art und Schwere der Behinderung, andererseits auf die gesamten Lebensumstände des Behinderten abzustellen ist.

3. Bei behinderten Menschen, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können, ist die Frage nach dem regelmäßigen Angewiesensein auf ein Kraftfahrzeug aus der Sicht des nicht berufstätigen behinderten Menschen zu beantworten.

 

Normenkette

SGB XII § 54 Abs. 1 S. 1, §§ 58, 53 Abs. 1 S. 1; SGB IX §§ 33, 55; EinglHV § 8 Abs. 1 S. 2, § 10 Abs. 6; UN-BRK Art. 30

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 31. August 2011 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von dem Beklagten die Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen zur Beschaffung eines Kraftfahrzeuges nach dem Sechsten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII).

Der 1959 geborene Kläger leidet an Multipler Sklerose. Bei ihm sind ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Nachteilsausgleiche G, aG und H festgestellt. Der Kläger ist rollstuhlpflichtig. Er wohnt in zentraler Lage in der Innenstadt von BP. und verfügt über einen Rollstuhl mit Elektroantrieb (Elektroscooter).

Aufgrund der zunehmenden Reparaturbedürftigkeit seines bisher benutzten Kraftfahrzeuges beantragte der Kläger am 22. April 2008 bei dem Beklagten die Bewilligung einer Beihilfe für die Anschaffung eines neuen behindertengerechten Kraftfahrzeuges, was der Beklagte mit Bescheid vom 19. Juni 2008 ablehnte. Der Kläger sei nicht ständig auf die Nutzung eines Kraftfahrzeuges angewiesen. Seine Eingliederung könne auch durch andere Hilfen, wie die Nutzung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs sowie des Behindertenfahrdienstes des Landkreises, erfolgen. Den Widerspruch des Klägers vom 17. Juli 2008 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 2. Oktober 2008 zurück.

Der Kläger hat am 22. Oktober 2008 Klage zum Sozialgericht Wiesbaden erhoben und vorgetragen, für seine gesellschaftliche Eingliederung sei er auf ein Kraftfahrzeug angewiesen. Er benötige das Kraftfahrzeug beispielsweise für fünf monatliche Gottesdienstbesuche in OJ. Dort besuche er auch zwei bis dreimal pro Woche den Friedhof, wo sein Sohn beerdigt sei. Darüber hinaus nehme er einmal die Woche an einem Tanzkurs für Behinderte und regelmäßig an Billardturnieren teil. Ferner besuche er die XY-Gruppe in OJ. Darüber hinaus besuche er Fortbildungsveranstaltungen zu Krankheitsthemen und die Osteoporosegruppen in BP. und OJ. Viermal im Jahr fahre er zu Heimspielen des FC Bayern NL. Auf die Nutzung des Elektroscooters könne er nicht verwiesen werden. Mit diesem komme man oft in Läden und Geschäfte nicht hinein. Die Nutzung der Bahn sei ihm nicht möglich, weil die Fahrten längerfristig angemeldet werden müssten und bestimmte Ziele z. B. in OJ. damit nicht erreichbar seien. Die Nutzung des Behindertenfahrdienstes des Beklagten, der monatlich lediglich vier kostenfreie Fahrten im Umkreis von 50 km anbiete, sei unter diesen Voraussetzungen nicht ausreichend, um die Besuche von Verwandten und Freunden sowie die Teilnahme an den bezeichneten Veranstaltungen zu ermöglichen.

Das Sozialgericht hat ein Sachverständigengutachten bei der Fachärztin für Neurologie Dr. QQ. zu den Teilhabebeeinträchtigungen des Klägers und seiner Fahrtauglichkeit eingeholt, welches diese am 5. Januar 2010 erstattet hat. Die Sachverständige diagnostiziert eine Multiple Sklerose mit schwerer Paraparese und Paraspastik der Beine sowie eine einschießende Spastik der Hände. Ein Kraftfahrzeug könne grundsätzlich geführt werden. Der Kläger hat ergänzend ein Gutachten des TÜV Rheinland vom 18. Januar 2011 vorgelegt, welches aufgrund einer Fahrprobe dem Kläger unter Auflagen und Einschränkungen Fahrtauglichkeit bescheinigt.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht hat der Beklagte erklärt, anstelle des Behindertenfahrdienstes könne eine Mobilitätspauschale von ca. 300,00 Euro angeboten werden.

Mit Urteil vom 31. August 2011 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe in Form von Hilfe zur Beschaffung eines Kraftfahrzeuges. Zwar sei der Kläger im Sinne des § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII in seiner Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, aufgrund seiner Erkrankung wesentlich eingeschränkt. Voraussetzung für die Bewilligung einer Hilfe zur Beschaffung eines Kraftfahrzeuges sei aber die sozialhilferechtlich gebotene Notwendigkeit der Leistung. Die Notwendigkeit der...

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