Entscheidungsstichwort (Thema)
Anordnung der sofortigen Vollziehung. Begründungspflicht der Behörde
Orientierungssatz
1. Die Begründungspflicht des § 86a Abs 2 Nr 5 SGG hat den Zweck, den Betroffenen durch Kenntnis der Gründe, die die Behörde zum Sofortvollzug veranlasst haben, seine Rechte wirksam wahrzunehmen und die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels abzuschätzen. Die Begründungspflicht soll der Behörde den Ausnahmecharakter der Vollziehungsanordnung ("Warnfunktion") vor Augen führen und sie veranlassen mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob tatsächlich ein überwiegendes Vollziehungsinteresse den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung erfordert. Diese vom Gesetzgeber beabsichtigte "Warnfunktion" der Begründungspflicht beruht auf dem hohen, auch verfassungsrechtlichen Stellenwert, der aufgrund Art 19 Abs 4 GG der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage gegen belastende Verwaltungsakte zuzumessen ist. Erforderlich ist eine auf den konkreten Einzelfall abstellende Darlegung des besonderen öffentlichen Interesses dafür, dass ausnahmsweise die sofortige Vollziehbarkeit notwendig ist und dass hinter dieses erhebliche öffentliche Interesse das Interesse des Betroffenen zurücktreten muss, zunächst von dem von ihm bekämpften Verwaltungsakt nicht betroffen zu werden.
2. Die Begründung kann ausnahmsweise auf die Begründung des zu vollziehenden Verwaltungsakts Bezug nehmen, wenn aus dieser bereits die besondere Dringlichkeit hervorgeht und die von der Behörde getroffene Interessenabwägung klar, insbesondere auch hinsichtlich der Frage, was allgemeine Begründung des Verwaltungsakts ist und was spezifischer Grund für den Sofortvollzug war, erkennbar ist; sie ist aber auch in diesem Fall, dh, wenn für den Sofortvollzug die selben Gründe maßgeblich sind, wie für den Verwaltungsakt, nicht entbehrlich.
Tenor
I. Auf den Antrag der Antragstellerin wird die Anordnung des sofortigen Vollzugs im Bescheid vom 29. August 2005 aufgehoben und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 7. August 1995 angeordnet.
II. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten in dem einstweiligen Rechtsschutzverfahren um die von der Antragstellerin begehrte vorläufige Aussetzung der angeordneten sofortigen Vollziehung einer Erstattungsforderung in Höhe von 54.730,70 Euro, die die Antragsgegnerin durch Bescheide vom 10. März und 19. Juli 1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 1995 geltend gemacht hatte.
Die von der Antragstellerin dagegen am 28. März 2003 erhobene Klage hat das Sozialgericht Darmstadt (SG) abgewiesen (Urteil vom 14. April 2005). In dem Rechtsstreit ging das SG davon aus, dass der Antragstellerin in den Jahren 1993 und 1994 zu Unrecht Kurzarbeitergeld gewährt worden sei, das die Antragstellerin zu erstatten habe.
Gegen das am 7. Juli 2005 zugestellte Urteil hat die Antragstellerin am 8. August 2005, eingegangen beim Landessozialgericht am gleichen Tage, Berufung eingelegt.
Mit Bescheid vom 29. August 2005 hat die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung der Bescheide vom 10. März 1995 und 19. Juli 1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 1995 angeordnet. Sie begründete die Anordnung des Sofortvollzugs (§ 86 a Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) im Wesentlichen mit der Wiederholung der Gründe aus dem Urteil vom 14. April 2005. Im Übrigen sei aus der Sicht der Antragsgegnerin angesichts der knappen finanziellen Mittel der Arbeitslosenversicherung und unter Beachtung der offensichtlichen Rechtmäßigkeit der Entscheidung des SG an der aufschiebenden Wirkung des sozialgerichtlichen Verfahrens nicht festzuhalten. Die Antragstellerin sei seit 1993/1994 im Besitz unrechtmäßig erlangten Geldes und habe dadurch einen erheblichen Zinsgewinn erzielt, die Antragsgegnerin hingegen habe einen erheblichen Zinsverlust erlitten. Zur Wahrung der Interessen der Antragstellerin habe die Antragsgegnerin schon die Prozesslaufzeit von zehn Jahren abgewartet, aber auch eine Behörde habe Anspruch auf effektiven Rechtsschutz. Jedenfalls sei sie nicht bereit, ein weiteres Berufungsverfahren abzuwarten.
Gegen den Bescheid vom 29. August 2005 hat die Antragstellerin mit Schreiben vom 2. September 2005, eingegangen beim Hessischen Landessozialgericht am 6. September 2005, einen Eilantrag mit dem Ziel gestellt, die sofortige Vollziehung der streitgegenständlichen Bescheide auszusetzen. Sie stützt ihren Antrag im Wesentlichen darauf, dass eine ausreichende Begründung des Sofortvollzuges durch die Antragsgegnerin nicht gegeben worden sei. Die Aufklärungen in der Hauptsache seien durch die Antragsgegnerin unzureichend geführt worden. Die Vollziehung würde nun “mitten im Verfahren" zu Lasten der Antragstellerin veranlasst, obwohl sie an den ungenügenden Feststellungen seitens der Antragsgegnerin und des SG, die zu den angefochtenen Bescheiden und dem Urteil geführt hätten, und der Dauer des Verfahrens nicht die mi...