Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. fortgesetzte Nachstellungen und Bedrohungen in der Folgezeit. keine tätlichen Angriffe. Chronifizierung der psychischen Leiden. entstandener Grad der Behinderung von über 30. keine Berücksichtigung bei der Feststellung des Grads der Schädigungsfolgen. Nichterreichen des rentenberechtigenden Mindest-GdS von 25. keine Beschädigtenrente. Versorgungsmedizinische Grundsätze. psychische Störung. keine Relevanz der genauen ICD-Diagnosen. sozialgerichtliches Verfahren. mögliche Befangenheit des Sachverständigen wegen privater Gutachtentätigkeit für die Versorgungsbehörde. anwaltlich vertretener Kläger. Erforderlichkeit eines ausdrücklichen Befangenheitsantrags
Orientierungssatz
1. Fortgesetzte Nachstellungen und Bedrohungen des Gewalttäters oder der Gewalttäterin gegenüber dem Opfer in der Folgezeit (nach der Gewalttat) stellen keine tätlichen Angriffe im Sinne von § 1 OEG dar. Sie sind deshalb im Rahmen der Gewaltopferentschädigung selbst dann nicht zu berücksichtigen, wenn es durch sie zu einer Chronifizierung des psychischen Leidens beim Opfer und zu einer psychischen Behinderung mit einem Behinderungsgrad (GdB) von über 30 gekommen ist (hier offengelassen).
2. Hat die Versorgungsbehörde eine "seelische Störung" anerkannt, ist für die Feststellung des Grads der Schädigungsfolgen (GdS) nicht mehr relevant, welche ICD-Diagnosen dieser im Einzelnen zugrunde zu legen sind.
3. Ein anwaltlich vertretener Kläger muss zur Ablehnung eines Sachverständigen einen ausdrücklichen Ablehnungsantrag stellen. Allein das Anzweifeln der Verwertbarkeit der Ausführungen des Sachverständigen (hier wegen privaten Gutachtentätigkeiten für das Versorgungsamt), reicht insoweit nicht aus.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 13. September 2019 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG).
Der 1986 geborene Kläger (deutscher Staatsangehöriger mit kurdischem Migrationshintergrund) machte in den Jahren 2002 bis 2005 eine Ausbildung zum Systemelektroniker. In der Folge arbeitete er im Anwendungsservicebereich und ab dem 1. Januar 2009 der Verfahrensbetriebsführung der Deutschen Bahn. Bereits ab dem Jahr 2007 besuchte er die Abendschule, welche er im Dezember 2011 mit dem Abitur abschloss.
Am 4. September 2009 wurde der Kläger auf dem Nachhauseweg von der Abendschule in der S-Bahn von dem Mitschüler C. M. durch einen Faustschlag in das Gesicht verletzt. Der Kläger erlitt eine Schwellung am rechten Jochbein sowie eine Platzwunde, die im Krankenhaus genäht werden musste. Wegen dieser Tat erließ das Amtsgericht Groß-Gerau gegen den Täter einen Strafbefehl über eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen.
Der Kläger versuchte in der Folgezeit erfolglos, einen Schulverweis gegen den Täter zu erreichen. Der Kläger selbst war nach der Tat für einen Monat arbeitsunfähig und unterbrach die Schule für sieben Monate. Anfang Dezember 2011 legte der Kläger das Abitur ab. Parallel zur Absolvierung der Abendschule war der Kläger berufstätig. Es kam zu weiteren Zusammentreffen zwischen dem Kläger und dem Täter bzw. der Familie des Täters in den Jahren 2009, 2012 und 2015, bei denen der Kläger sich durch den Täter bzw. dessen Familie bedroht fühlte. Die vom Kläger in diesem Zeitraum gestellten Strafanzeigen wegen Sachbeschädigung und Bedrohung stellte die Staatsanwaltschaft Darmstadt ein. Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen den Täter wies das Amtsgericht Rüsselsheim mit Beschluss vom 28. November 2012 zurück; von einem Nachstellen mit Wiederholungsgefahr könne nicht ausgegangen werden.
Der Kläger beantragte am 23. Dezember 2011 die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Infolge des tätlichen Angriffs am 4. September 2009 leide er an Schlafstörungen, permanenter Müdigkeit, Konzentrationsstörungen sowie Trägheit. Er schlafe an manchen Tagen 14 bis 16 Stunden. In einem von dem Beklagten angeforderten Befundbericht teilte der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. D. am 3. August 2012 mit, bei dem Kläger bestünden neben den körperlichen Verletzungen (Platzwunde rechte Stirn, Verstauchung der Halswirbelsäule sowie einer Prellung des linken Unterarmes) psychische Folgen, da er an einem krankhaften Schlafbedürfnis leide. Dr. E. (Internistin/Somnologin) führte in dem Befundbericht vom 14. April 2010 aus, dass sich der Kläger mit ausgeprägter Tagesmüdigkeit, Einschlafneigung am Tage und morgendlichen Cephalgien am 19. Februar 2010 im Schlaflabor vorgestellt habe. Seit der Schulzeit bestehe dieses Problem, das früher durch eine lange Schlafzeit habe gebessert werden können (Bl. 20 der Verwaltungsakte). Nach dem Vorfall mit Gewaltandrohung im September 2009 se...