Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen einen Aufhebungsbescheid oder einstweilige Anordnung der Auszahlung von Leistungen. Sozialhilfe. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Aufhebung bei Änderung der Verhältnisse. dauerhafte volle Erwerbsminderung. Durchlaufen des Berufsbildungsbereichs einer WfbM
Leitsatz (amtlich)
1. Zum Verhältnis des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, gerichtet auf Auszahlung der Leistungen aus einer Leistungsbewilligung, zum Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Aufhebungsbescheid.
2. § 45 S 3 Nr 3 SGB XII in der seit 1.7.2017 geltenden Fassung ist dahingehend auszulegen, dass bei Personen, die den Eingangs- bzw Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen durchlaufen, eine volle Erwerbsminderung auf Dauer zumindest widerleglich unterstellt wird.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 30. April 2018 wird der Ausspruch zur Sache wie folgt gefasst:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ab 16. April 2018 bis 30. April 2018 Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII in Höhe von 594, 26 € zu zahlen.
Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Beschwerde zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um die Leistungsberechtigung des Antragstellers im Sozialgesetzbuch XII. Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) bereits aufgrund des Durchlaufens des Eingangs- und Berufsbildungsbereichs einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM).
Der 1997 geborene Antragsteller ist schwerbehindert. Ausweislich des Schwerbehindertenausweises wurde ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen G, AG, H und RF festgestellt. Er leidet an einem inoperablen Hirntumor, einer Visusminderung und einer Halbseitenlähmung links; es besteht ein zerebrales Anfallsleiden. Der Antragsgegner bewilligte mit Bescheid vom 29. Januar 2018 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Februar 2018 bis 30. April 2018.
Bereits zum 1. Mai 2016 war er in den Berufsbildungsbereich der WfbM D. e.V. in D Stadt aufgenommen worden.
Nach dem der Antragsgegner ein Rundschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 3. Juli 2017 erhalten hatte, hob er mit Bescheid vom 19. Februar 2018 die Bewilligung für die Zeit ab 1. März 2018 auf. Im Berufsbildungsbereich der WfbM liege keine dauerhafte volle Erwerbsminderung vor. Es bestehe dem Grunde nach ein Anspruch auf Sozialgeld nach dem SGB II. Voraussetzung für die Prüfung sei, dass ein Antrag beim Jobcenter gestellt werde.
Der Antragsteller legte hiergegen am 23. Februar 2018 Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 20. April 2018 zurückgewiesen wurde.
Bereits am 13. April 2018 hat der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Zur Begründung hat er sich u.a. auf die Auslegung des § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII durch das Sozialgericht Augsburg im Urteil vom 16. Februar 2018 - S 8 SO 143/17 - berufen. Mit Beschluss vom 30. April 2018 hat das Sozialgericht Gießen den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ab 16. April 2018 längstens bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Leistungszeitraum 1. Februar 2018 bis 31. Januar 2019 Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII in Höhe von 594, 26 € zu zahlen.
Die hiergegen gerichtete Beschwerde, die der Antragsgegner auf die Auslegung von § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB X durch das BMAS im o.g. Rundschreiben stützt, ist am 9. Mai 2018 bei dem Hessischen Landessozialgericht eingegangen.
Der Kläger erhob am 3. Mai 2018 Klage gegen den Bescheid vom 19. Februar 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2018 (Az.: S 18 SO 41/18). Am 17. Mai 2018 wurde der Antragsteller in den Arbeitsbereich der WfbM aufgenommen. Der Antragsgegner gewährte daraufhin mit Bescheid vom 12. Juni 2018 Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII ab 1. Mai 2018.
II.
Die Beschwerde des Antragsgegners, mit der er sinngemäß beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 30. April 2018 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen,
ist zulässig.
Sie ist statthaft, da zum maßgeblichen Zeitpunkt der Erhebung der Beschwerde noch nicht feststand, wann der Antragsteller in den Arbeitsbereich der WfbM wechselt. Die Hauptsacheerledigung ab Mai 2018 durch Erlass des Bescheids vom 12. Juni 2018 lässt die Statthaftigkeit der Beschwerde nicht nachträglich entfallen (vgl. Breitkreuz/Schreiber, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. 2014, § 144, Rn. 10, m.w.N.).
Die Beschwerde ist aber im Ergebnis weitgehend unbegründet.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig. ...