Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht. Überbrückungsleistungen. Vorliegen einer besonderen Härte im Sinne des § 23 Abs 3 S 6 SGB 12. weite Auslegung. Verfassungsmäßigkeit. Europarechtskonformität

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Notwendigkeit der verfassungskonformen Auslegung von § 23 Abs 3 S 3 bis 6 SGB XII (hier: Abgrenzung zu BSG vom 29.3.2022 - B 4 AS 2/21 R = SozR 4-1100 Art 1 Nr 20).

2. Unionsgrundrechte sind nach Art 51 Abs 1 GRCh (juris: EUGrdRCh) auch dann anzuwenden, wenn materiell-rechtlich die Bedingungen der RL 2004/38/EG (juris: EGRL 38/2004) nicht mehr erfüllt werden, sondern allein nach günstigerem innerstaatlichem Recht von einer Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen ist (Anschluss an EuGH vom 15.7.2021 - C-709/20 = InfAuslR 2021, 347).

 

Tenor

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 7. September 2022 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren.

Der Antragstellerin wird ratenfrei Prozesskostenhilfe für den Beschwerderechtszug unter Beiordnung von Rechtsanwältin B., B-Stadt, gewährt.

 

Gründe

I.

Zwischen den Beteiligten sind Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) streitig.

Die 1983 geborene Antragstellerin ist bulgarische Staatsangehörige. Nach ihren Angaben lebt sie seit vielen Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Im Jahr 2018 meldete sie sich nach § 3 des Gesetzes zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen (Prostituiertenschutzgesetz - ProstSchG) an und erhielt am 14. November 2018 eine Bescheinigung nach § 5 ProstSchG; am 25. August 2021 wurde eine neue, bis zum 24. August 2023 gültige Anmeldebescheinigung nach dem PostSchG ausgestellt. Da die Ausübung der Prostitution aufgrund der Corona-Pandemie im März 2020 im Verordnungswege untersagt wurde, erzielte die Antragstellerin keine Einnahmen mehr. Aufgrund dessen verlor sie nach ihren Angaben ihre Unterkunft in der Stadt A-Stadt und lebt derzeit in einem Hotel in der Stadt A-Stadt. Nachdem die Antragstellerin langjährig keine Meldung bei den Meldebehörden vorgenommen hatte, ist sie seit dem 30. September 2020 in A-Stadt gemeldet. Ab Juli 2021 versuchte die Antragstellerin nach ihren Angaben ihre frühere selbständige Tätigkeit wieder aufzunehmen; dies ist nicht gelungen.

Nachdem ein einstweiliges Verfügungsverfahren gegen das Jobcenter im Wesentlichen erfolglos geblieben ist (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 30. Dezember 2021 - L 6 AS 455/21 B ER), wurde die Antragsgegnerin verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit vom 8. Februar 2022 bis zum 30. April 2022 Leistungen nach § 23 Abs. 3 Sätze 3 bis 6 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch Sozialhilfe - SGB XII - in Höhe von (ggf. anteilig) monatlich 404 € abzüglich der im Regelbedarf vorgesehenen Kosten der Abt. 4 (Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung) der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zuzüglich Kosten der Unterkunft und Heizung zu gewähren (vgl. Senatsbeschluss vom 28. April 2022 - L 4 SO 39/22 B ER). In einem weiteren Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wurde im Beschwerdeverfahren der Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt aufgehoben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit vom 4. Mai 2022 bis zum 31. Juli 2022 Leistungen nach § 23 Abs. 3 Sätze 3 bis 6 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch Sozialhilfe - SGB XII - in Höhe von (ggf. anteilig) 404 Euro abzüglich der im Regelbedarf vorgesehenen Kosten der Abt. 4 (Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung) der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zuzüglich Kosten der Unterkunft und Heizung zu gewähren (Senatsbeschluss vom 7. Juni 2022 - L 4 SO 84/22 B ER).

Mit Bescheid vom 21. September 2022, der Antragstellerin wahrscheinlich zugegangen am 23. September 2022, stellte das Ausländeramt der Antragsgegnerin das Nichtbestehen eines Freizügigkeitsrechts fest, forderte die Antragstellerin zur Ausreise auf und drohte die Abschiebung nach Bulgarien an. Der Bescheid ist zwischenzeitlich bestandskräftig geworden.

Das Sozialgericht Darmstadt hat den am 16. August 2022 eingegangenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 7. September 2022, der Bevollmächtigten der Antragstellerin zugestellt am selben Tage, abgelehnt. Die Antragstellerin habe einen Härtefall im Sinne des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII nicht glaubhaft gemacht. Nur ganz außergewöhnliche individuelle Situationen könnten eine weitergehende Leistungsgewährung rechtfertigen. Es solle kein dauerhafter Leistungsbezug ermöglicht werden. Der damit verbundene vollständige Leistungsausschluss sei mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar (Hinweis auf BSG, Urteil vom 29. März 2022 - B 4 AS 2/21 R, juris Rn. 35 ff.).

Mit der hiergegen gerichteten Beschwerde vom 6. Oktober 2022 verfolgt die Antragstellerin ihr Begehren unter Bezugn...

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