Entscheidungsstichwort (Thema)
Prüfung von Vereinbarkeit von Landesrecht mit Landesverfassung oder Grundgesetz. Wahlrecht des Gerichts bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit. Schutz des Eigentums. Regelung ≪hier § 8≫ des Gesetzes über die Kassen(zahn)ärztliche Vereinigungen und darauf basierende erweiterte Honorarverteilung verstößt gegen Verfassungsrecht. weitere Anwendung der Regelungen zur erweiterten Honorarverteilung
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Prüfung der Vereinbarkeit von Landesrecht mit der Landesverfassung oder dem Grundgesetz (GG) kann dem Gericht ein Wahlrecht bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit entweder an Normen der Landesverfassung oder des GG zukommen. Nach Art 142 GG - der insoweit die speziellere Regelung im Verhältnis zu Art 31 GG ("Bundesrecht bricht Landesrecht") darstellt - gelten die Grundrechte der Hessischen Verfassung (HV) insoweit weiter, als sie Grundrechte in Übereinstimmung mit Art 1- 18 GG gewährleisten.
2. Die von Art 142 GG geforderte Übereinstimmung zwischen Grundrechten des GG und der HV besteht insbesondere dann, wenn das jeweilige Grundrecht inhaltsgleich im GG und in der HV gewährleistet wird. Dies ist der Fall, wenn sich weder grundrechtlicher Schutzbereich noch Schrankenregelungen einander widersprechen (Anschluss an BVerfG vom 15.10.1997 - 2 BvN 1/95 = BVerfGE 96, 345ff, 364f).
3. Art 45 Abs 1 bis Abs 3 HV gewährleistet den Schutz des Eigentums in einer mit Art 14 Abs 1 GG inhaltsgleichen Weise auch insoweit, als diejenigen öffentlich-rechtlichen Rechtspositionen Eigentum (oder jedenfalls eigentumsgleiche Rechte) darstellen, die der Existenzsicherung zu dienen bestimmt sind, sich als Äquivalent eigener Leistung erweisen und nicht in erster Linie und/oder überwiegend auf staatlicher Gewährung beruhen (Anschluss an BVerfG vom 16.7.1985 - 1 BvL 5/80 = BVerfGE 69, 272; und BVerfG vom 12.2.1986 - 1 BvL 39/83 = BVerfGE 72, 9 sowie Hess StGH ESVGH 32, 9 - nicht in juris).
4. § 8 des Gesetzes über die Kassenärztliche Vereinigung Hessen und die Kassenzahnärztliche Vereinigung Hessen" (KVHG) vom 22.12.1953 (GVBl 1953, S 206f) verstößt gegen Art 45 Abs 1 der Verfassung des Landes Hessen (HV) in Verbindung mit dem Demokratieprinzip und dem Rechtsstaatsgebot, weil die in ihm enthaltene Ermächtigung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV), im Rahmen ihrer Satzung für eine wirtschaftliche Sicherung der invaliden und alten Kassenärzte zu sorgen, dem im Rahmen des Vorbehalts des Gesetzes zu beachtenden Bestimmtheitserfordernis an ein grundrechtsbeschränkendes Gesetz ebenso widerspricht, wie dem Wesentlichkeitsgebot. Weitreichende und die Existenzsicherung betreffende Beschränkungen eines Grundrechts müssen vielmehr durch den parlamentarischen Gesetzgeber selbst geregelt und dürfen nicht ohne nähere Bestimmung der Grundsätze der Existenzsicherung an nachgeordnete Normgeber delegiert werden. Als verfassungswidrig erweisen sich die unter Berufung auf § 8 KVHG ergangenen Satzungsregelungen der "Grundsätze der erweiterten Honorarverteilung" (EHV) für die Zeit ab dem Jahr 2001 auch insoweit, als Änderungen dieser Grundsätze durch den Satzungsgeber einseitig zu Lasten der EHV-Leistungsempfänger ergangen sind, ohne dass dieser Kreis der Betroffenen qualifiziert bei der Veränderung der Satzung beteiligt worden ist.
5. Die Verfassungswidrigkeit von § 8 KVHG führt jedoch nicht zwingend zur Nichtigkeit des Gesetzes, weil durch die auf Grund von § 8 KVHG erlassenen Satzungsbestimmungen auch weiterhin existentiell wichtige Leistungen der EHV erbracht werden müssen. Weil § 8 KVHG zwar für verfassungswidrig, nicht aber für nichtig angesehen wird und die Verfassungsmäßigkeit dieser Norm insoweit nicht allein entscheidungserheblich ist, entfällt deshalb auch die Pflicht zur Vorlage an den Hessischen Staatsgerichtshof nach Art 133 HV bzw. an das Bundesverfassungsgericht nach Art 100 GG. Für einen angemessenen Zeitraum kann vielmehr - wovon auch Art 133 HV und § 41 des Hessischen Gesetzes über den Staatsgerichthof (Hess StGHG) ausgehen - die verfassungswidrige Norm nach Maßgabe der Rechtsauffassung des erkennenden Senats zunächst in ihrer Grundstruktur weiter angewandt werden. Dem parlamentarischen Gesetzgeber obliegt es jedoch gleichzeitig, in angemessener Frist insgesamt für einen verfassungskonformen Rechtszustand Sorge zu tragen.
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 19. Mai 2004 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Änderung der EHV-Bescheide für die Quartale IV/01 bis IV/02, jeweils in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 18. Juni 2003 und vom 10. Oktober 2003 verurteilt, dem Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats einen neuen Bescheid zu erteilen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten und trägt auch die Gerichtskosten.
Im Übrigen haben die Beteiligt...