Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche bzw bei fehlendem Aufenthaltsrecht. Unionsbürger. kein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht. Familiennachzug. Unterhaltsgewährung durch Eltern vor dem Zeitpunkt der Einreise. Sozialhilfeanspruch. Ermessensreduzierung. Aufenthaltsverfestigung. Überbrückungsleistungen. keine Notwendigkeit des Ausreisewillens
Orientierungssatz
1. Ein, dem Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 Buchst b SGB 2 entgegen stehendes, abgeleitetes Freizügigkeitsrecht nach § 3 Abs 1, Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU 2004 steht einer der Familie nachziehenden Unionsbürgerin nicht zu, wenn eine wirtschaftliche Abhängigkeit und eine Unterhaltsgewährung der Eltern bereits vor dem Zeitpunkt der Einreise nicht nachgewiesen ist.
2. Zum Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 23 Abs 1 S 3 SGB 12 in der bis zum 28.12.2016 geltenden Fassung im Wege der Ermessensreduzierung auf Null aufgrund einer Verfestigung des Aufenthalts nach sechsmonatigem tatsächlichen Aufenthalt.
3. Der Senat folgt der Rechtsprechung des 4. Senats (vgl LSG Darmstadt vom 1.7.2020 - L 4 SO 120/18 = ZFSH/SGB 2020, 583) insofern, als er für einen Anspruch auf Überbrückungsleistungen gemäß § 23 Abs 3 S 3 bis 6 SGB 12 in der Fassung vom 22.12.2016 kein ungeschriebenes anspruchsbegründendes subjektives Tatbestandsmerkmal eines Ausreisewillens für erforderlich hält.
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 4. Dezember 2019 aufgehoben.
Die Beigeladene wird verurteilt, der Klägerin im Zeitraum 1. April 2016 bis 28. Dezember 2016 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII in gesetzlicher Höhe und im Zeitraum 29. Dezember 2016 bis 28. Januar 2017 Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 SGB XII zu gewähren.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Beigeladene trägt 9/10 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Im Übrigen haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) im Zeitraum 1. April 2016 bis 28. Februar 2017, insbesondere um das Bestehen eines Leistungsausschlusses für die Klägerin als EU-Ausländerin.
Die im Jahr 1993 geborene Klägerin ist lettischer Staatsangehörigkeit. Sie hatte nach ihren Angaben in Lettland zuletzt als Verkäuferin gearbeitet und dabei einen Monatslohn in Höhe von 360,- Euro erzielt. Sie reiste am 20. Oktober 2015 ins Bundesgebiet ein. Sie war zu diesem Zeitpunkt schwanger. Nach eigenen Angaben war es ihr ohne ihre Eltern, die bereits seit dem Jahr 2010 in Deutschland wohnen, in Lettland langweilig geworden. Sie sei zum Studium nach Deutschland gekommen und habe zunächst bei ihren Eltern wohnend Deutsch lernen wollen. Von ihrer Schwangerschaft habe sie erst in Deutschland erfahren. Ihr Sohn C. wurde 2016 geboren.
Die Eltern der Klägerin standen im Jahr 2015 im aufstockenden Bezug von Leistungen nach dem SGB II. Die Klägerin wurde von der Beklagten zunächst in den Bewilligungsbescheiden der Bedarfsgemeinschaft zugerechnet. Die Eltern verfügten seinerzeit über ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit bzw. Arbeitslosengeld nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung (SGB III) in Höhe von insgesamt ca. 1.300 - 1.800 Euro monatlich. Den drei Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft wurden mit Bescheid vom 4. Januar 2016 ergänzende Leistungen für den Zeitraum Dezember 2015 bis Mai 2016 gewährt in Höhe zwischen 55,51 Euro bis 403,94 Euro.
Am 7. März 2016 stellte die Klägerin dann bei der Beklagten einen „Neuantrag“ auf Leistungen mit der Begründung, sie habe ab dem 1. April 2016 eine eigene Wohnung angemietet, werde also aus dem gemeinsamen Haushalt mit den Eltern ausziehen. Daraufhin erließ die Beklagte noch am 7. März 2016 einen Änderungsbescheid, mit dem die Klägerin ab April 2016 nicht mehr in der Bedarfsgemeinschaft der Eltern berücksichtigt wurde. Mit Bescheid vom 17. März 2016 wurde der Leistungsantrag der Klägerin abgelehnt, weil die Klägerin dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II unterfalle. Ihr Aufenthaltsrecht ergebe sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche (Leistungsakte (LA) S. 39).
Mit Widerspruch vom 29. März 2016 machte die Klägerin geltend, der genannte Leistungsausschluss greife bei ihr nicht ein. Sie könne von ihren Eltern ein Freizügigkeitsrecht nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) ableiten, da diese ihr Unterhalt gewährten. Bislang habe sie bei den Eltern kostenfrei gelebt, diese unterstützten sie auch nach dem Auszug mit monatlich 100,- Euro. Sie sei zudem auch schon in Lettland von den Eltern durch Überweisungen auf ihr dortiges Konto unterstützt worden. Sie legte Bele...