Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Tetanus-Impfung. Polyneuropathie als mögliche Impfschädigung. ursächlicher Zusammenhang mit der Schutzimpfung. Nachweis des Impfschadens. Hinweis auf schleichende Entwicklung und schwierige Diagnose der Erkrankung nicht ausreichend. lange zurückliegende Impfung. spät diagnostizierte Krankheit. fehlende Brückensymptome. Studienlage zu Thiomersal. sozialgerichtliches Verfahren. kein Recht auf Anhörung eines Sachverständigen aus einem vorhergehenden Verfahren
Orientierungssatz
1. Für den Nachweis eines Impfschadens ist der Hinweis auf Schwierigkeiten hinsichtlich der Diagnosestellung (hier im Hinblick auf die schleichende Entwicklung und schwierige Erkennung bzw Diagnose einer Polyneuropathie) nicht zureichend. Dies gilt umso mehr, wenn die Erkrankung erst vor kurzem diagnostiziert, aber bereits eine erhebliche Zeit seit den Impfungen vergangen ist (hier: Diagnose seit 2 Jahren und Impfungen vor 17 Jahren).
2. Zur Bedeutung von Brückensymptomen bei erst spät diagnostizierten Erkrankungen im Impfschadensrecht.
3. Epidemiologische Studien haben keinen Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen thiomersalhaltigen Impfstoffen und neurologischen Entwicklungsstörungen ergeben (vgl LSG München vom 14.2.2012, L 15 VJ 3/08 = NZS 2012, 640).
4. Das Recht der Beteiligten auf Befragung eines Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung besteht grundsätzlich nur hinsichtlich der Gutachten, die in demselben Verfahren erstattet worden sind.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gießen vom 4. Juli 2013 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob im Wege des Überprüfungsverfahrens bei dem Kläger ein Impfschaden anzuerkennen und zu entschädigen ist.
Der 1951 geborene Kläger beantragte am 20. Januar 2007 bei dem Beklagten Impfschadensentschädigung. Er sei im August 1990 gegen Tetanus geimpft worden. Etwa zwei bis drei Wochen nach der zweiten Tetanusimpfung seien aus völliger Gesundheit heraus plötzlich grippeartige Symptome aufgetreten. In der Folge habe er immer öfter unter Schwindelattacken und später unter Ausfallerscheinungen der rechten Hand und starken Kopfschmerzen gelitten. Ende November 1990 seien dann erstmals nachts krampfartige, stromstoßartige Schmerzen in den Außenseiten beider Waden sowie psoriasisartige Hautveränderungen an der Rückseite beider Oberschenkel unterhalb des Gesäßes aufgetreten. Als Schädigungsfolgen gab er u. a. eine Polyneuropathie, Gelenkbeschwerden, Allergie und Hautausschläge an. Ab März 1992 sei es zu einem beruflichen Leistungsabfall mit nachfolgender Berentung 1996 gekommen. Dem Antrag beigefügt waren u. a. die Impfbescheinigung von Dr. C. über die am 7. August und 21. August 1990 durchgeführte Tetanus-Schutzimpfung mit Tetanol, Impfbescheinigungen über frühere Tetanus-Schutzimpfungen in den Jahren 1971 bis 1978 sowie diverse Krankenunterlagen. Ergänzend verwies der Kläger mit Schreiben vom 1. Februar 2007 auf eine nach einem Verkehrsunfall durchgeführte weitere Tetanusimpfung vom 29. August 1986 im Kreiskrankenhaus Bad Homburg als mögliche Ursache einer leichten Nervenschädigung, welche durch die später erfolgten Impfungen eskaliert sei. Zusätzlich legte er einen nervenärztlichen Befundbericht von Dr. Dr. D. vom 28. März 2007 vor, der bei dem Kläger eine Polyneuropathie unklarer Genese diagnostizierte.
Der Beklagte zog die Schwerbehindertenakte des Klägers bei. Danach war bei dem Kläger mit Bescheid vom 25. Juli 1994 ein Grad der Behinderung von 50 festgestellt und als Behinderungen anerkannt worden: degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Bandscheibenschädigungen und Bewegungseinschränkungen, Reizerscheinungen; Schuppenflechte mit Gelenkbeteiligung und Knochenumbauprozessen bei Notwendigkeit der Immunsuppression; nervöse Störungen. Ferner stellte der Beklagte im September 1999 in Ausführung eines sozialgerichtlichen Vergleichs bei dem Kläger das Merkzeichen "G" fest.
Der Beklagte holte eine aktenmäßige internistische Stellungnahme von Dr. E. vom 14. Mai 2007 ein, der ausführte, dass unspezifische neurologische Störungen erst viele Jahre nach der Impfung berichtet worden seien; aus der Zeit unmittelbar nach der Impfung seien keinerlei derartige Störungen dokumentiert. Nervenschäden infolge einer Impfung träten jedoch in der Regel Stunden bis wenige Wochen nach der Impfung auf. Hierauf lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 29. Mai 2007 eine Versorgung des Klägers nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 7. August 2007 als unbegründet zurück.
Der Kläger erhob am 10. August 2007 Klage zum Sozialgericht Gießen und machte eine Schädigung des peripheren Nervensystems als Folge der Impfung geltend. Es sei bereits ein bis zwei Woche...