Entscheidungsstichwort (Thema)
gesetzliche Unfallversicherung. Berufskrankheit. Kausalität. wesentliche Mitursache. epidemiologische Studie. Blasenkrebs. Chemiearbeiter. Zigarettenrauchen
Orientierungssatz
Zur Anerkennung eines Harnblasenkarzinoms eines Chemiearbeiters und Gelegenheitsrauchers, der während seiner Berufstätigkeit mehr als 20 Jahre gegenüber aromatischen Aminen, speziell mit Beta-Naphthylamin (2-NA/BNA) als produktionsbedingte Verunreinigung der gängigsten in der Gummiindustrie verwendeten Alterungsschutzmittel/Antioxidantien wie Phenyl-alpha-Naphthylamin (PAN), Phenyl-beta-Naphthylamin (PBN), Aldol-1-Naphthylamin (AP) exponiert war, als Berufskrankheit gem BKVO Anl 1 Nr 1301.
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 14. Oktober 1997 und der Bescheid der Beklagten vom 28. März 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 1994 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger unter Feststellung seiner Blasenkrebs-Erkrankung als BK nach der Nr. 1301 der Anlage 1 zur BKV ab Oktober 1990 bis Januar 1996 Verletztenrente nach einer MdE von 50 v.H. und ab Februar 1996 bis Januar 1999 einschließlich nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Beklagte eine Blasenkrebserkrankung des Klägers als Berufskrankheit (BK) nach der Nr. 1301 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) - “Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine„ - festzustellen und für die Zeit von Oktober 1990 bis Januar 1996 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 v.H. und ab Februar 1996 bis Januar 1999 nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren hat.
Der 1920 geborene Kläger war von Januar 1954 bis Ende September 1979 insgesamt 26 Jahre lang als angelernter Chemiearbeiter bei der Firma P. - B. Gummiwerke GmbH, die ihren Betrieb seit längerem eingestellt hat, beschäftigt. Seit Oktober 1980 bezieht der Kläger Altersrente. Im Oktober 1990 - im Alter von 70 Jahren - wurde bei ihm ein Karzinom des Urothels/Übergangsepithels der Harnblase im Bereich der rechten Seitenwand (Klassifizierung: pTA NX MX G1) diagnostiziert, das in den Städtischen Kliniken F. operiert wurde. Bei der Kontrolle im Februar 1993 ergab sich im Bereich des Blasendachs ein kleines Tumorrezidiv (Klassifizierung: G2 pTA1), das ebenfalls entfernt wurde. Ein weiteres größeres Tumorrezidiv im linken Blasendach wurde im Januar 1994 nachgewiesen, weshalb der Kläger sich von Februar bis Juni 1994 einer lokalen Chemotherapie unterziehen musste. Bei weiteren Nachkontrollen wurde kein Rezidiv mehr festgestellt.
Bereits im Februar 1992 hatte der Dr. E. bei der Beklagten unter Hinweis auf die Übersicht in der IARC-Monografie Nr. 28 aus dem Jahre 1982 Anzeige wegen des Verdachts auf eine BK erstattet, verursacht durch den beruflichen Umgang mit aromatischen Aminen, speziell mit Beta-Naphthylamin (2-NA/BNA) als produktionsbedingte Verunreinigung der gängigsten in der Gummiindustrie verwendeten Alterungsschutzmittel/Antioxidantien wie Phenyl-alpha-Naphthylamin (PAN), Phenyl-beta-Naphthylamin (PBN), Aldol-1-Naphthylamin (AP). Bezüglich konkurrierender außerberuflicher Ursachen für ein Harnblasenkarzinom wurde angemerkt, dass der Kläger lediglich während der Kriegsjahre zwischen 1939 und 1945 Gelegenheitsraucher gewesen sei (sieben Zigaretten pro Woche) und auch phenacetinhaltige Schmerzmittel nicht eingenommen habe.
Zur beruflichen Exposition des Klägers bei der Firma P. - BTR Gummiwerke GmbH hat sich nach umfangreichen Ermittlungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren u.a. insbesondere durch den Technischen Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten und den Dr. E. mit wiederholten Befragungen des Klägers und des ehemaligen Arbeitgebers sowie Auskunfterteilungen durch ehemalige, zum Teil leitende Betriebsangehörige aus dem Labor und den Arbeitsbereichen des Klägers (Dr. M., H. L., H. Sch., Dr. S., K. B., J. T., K. F., M. W.) insgesamt im Wesentlichen folgendes Bild ergeben:
Der Kläger arbeitete bei der Firma P. - B. Gummiwerke GmbH zunächst von 1954 bis 1955 (oder bis 1956/1957) in der Schaumgummiabteilung. Von 1956/1957 bis 1968 war er in der Förderbandabteilung tätig, bis 1965 in einer 12-Stunden- und danach in einer 8-Stunden-Schicht. In der Förderbandabteilung wurden in einer Halle von 80 x 40 x 10 m Größe Förderbänder u.a. für die Steinkohlenindustrie und - alle drei bis vier Wochen - weiße Förderbänder für die Lebensmittelindustrie sowie Gummipressplatten von 1 bis 2 m Größe und 3 bis 6 mm Dicke hergestellt. Hier hatte der Kläger insbesondere an in der Mitte der Halle stehenden langen Tischen zu 50 % rohe Förderbänder (Gewebebahnen) und zu 50 % 30 x 1 m große Gummibänder mit einer in einem separaten Mischraum hergestellten Kautschuklösung zu beschichten und in mehreren Schichten aufein...