Entscheidungsstichwort (Thema)

Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erst nach Leistungsfall. Dauer der rentenrelevanten Leistungseinschränkung. Feststellung der Leistungsminderung. retrospektive Betrachtungsweise

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ist der Leistungsfall vor der Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen eingetreten, besteht grundsätzlich kein Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

2. Eine Erwerbsminderung iS des § 43 Abs 1 S 2 und Abs 2 S 2 SGB 6 liegt vor, wenn eine rentenrelevante Leistungseinschränkung über einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten besteht.

3. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Leistungsminderung auf "nicht absehbare Zeit" vorliegt, ist eine retrospektive Betrachtungsweise geboten.

 

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 7. August 2017 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach dem Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI). Umstritten ist insbesondere, ob bei der Klägerin eine Erwerbsminderung in rentenberechtigendem Ausmaß erst zu dem Zeitpunkt vorgelegen hat, in dem die für einen Rentenanspruch erforderlichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt waren oder bereits zu einem früheren Zeitpunkt bestanden hat.

Die 1975 in Jordanien geborene Klägerin verfügt über eine abgeschlossene Berufsausbildung als Chemieingenieurin. Sie kam 2003 nach Deutschland und war seitdem nicht mehr erwerbstätig. Mit ihrem im Jahr 2013 verstorbenen Ehemann hat sie drei gemeinsame Kinder, die alle in Deutschland geboren sind. Die Tochter D. kam 2004 zur Welt, der Sohn E. 2007 und die Tochter F. 2013. Mit Bescheid vom 4. August 2014 merkte die Beklagte betreffend die Tochter D. den Zeitraum vom 1. Juni 2004 bis 31. Mai 2007 als Kindererziehungszeit und für den Zeitraum vom 3. Mai 2004 bis 16. Dezember 2013 Berücksichtigungszeiten für Kindererziehung, betreffend den Sohn E. den Zeitraum vom 1. Juni 2007 bis 31. Mai 2010 als Kindererziehungszeit und für den Zeitraum vom 11. Mai 2007 bis 16. Dezember 2013 Berücksichtigungszeiten für Kindererziehung und betreffend die Tochter F. den Zeitraum vom 1. Juli 2013 bis 16. Dezember 2013 als Kindererziehungszeit und für den Zeitraum vom 26. Juni 2013 bis 16. Dezember 2013 Berücksichtigungszeiten für Kindererziehung vor.

Seit dem 14. August 2014 bezieht die Klägerin Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) in Form von Hilfe zur Pflege, sowie seit September 2013 eine Witwenrente. Davor erhielt sie Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch- Grundsicherung für Arbeitssuchende- (SGB II), für die Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet wurden.

Am 16. Dezember 2013 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und legte mehrere Befundberichte ihrer behandelnden Ärzte vor.

Auf Veranlassung der Beklagten wurde sie daraufhin am 12. Juni 2014 von dem Facharzt für Neurologie Dr. med. H. untersucht. Dr. med. H. diagnostizierte eine durchgängige Hemiparese links nach zwei Schlaganfällen im Jahr 2005, eine Anpassungsstörung im Sinne einer verlängerten Trauerreaktion, Folgen tiefer Beinvenenthrombosen und eine Migräne mit Auren und stellte ein aufgrund dieser Erkrankungen aufgehobenes Leistungsvermögen fest. Dieses aufgehobene Leistungsvermögen bestehe bei retrospektiver Betrachtung bereits seit dem Jahr 2005.

Gestützt auf diese Leistungsbeurteilung lehnte die Beklagte den Rentenantrag durch Bescheid vom 4. August 2014 unter Verweis auf die fehlenden versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Bezug einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ab. Bei der Klägerin bestehe zwar nach den getroffenen medizinischen Feststellungen seit dem 28. Februar 2005 eine volle Erwerbsminderung im Sinne des Gesetzes, allerdings sei die gemäß § 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) erforderliche Wartezeit von fünf Jahren nicht erfüllt. In dem maßgeblichen 5-Jahreszeitraum vor dem Eintritt des Versicherungsfalls seien lediglich 9 Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen belegt, so dass die für einen Rentenanspruch erforderliche Wartezeit von 60 Monaten nicht erfüllt werde.

Gegen den ablehnenden Rentenbescheid vom 4. August 2014 erhob die Klägerin am 21. August 2014 Widerspruch und machte geltend, dass die Beklagte die Kindererziehungszeiten nicht als Pflichtbeitragszeiten anerkannt habe. Insgesamt seien bis zum 30. Juni 2016 insgesamt 108 Monate an Kindererziehungszeiten anzuerkennen. Insoweit sei auch nicht verständlich, wieso die Beklagte auf den Zeitpunkt 28. Februar 2005 abstelle und nicht auf den Zeitpunkt der Antragstellung.

Mit Schreiben vom 2....

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