Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen Erwerbsminderung. Leistungsminderung auf "nicht absehbare Zeit". Dauerrente. retrospektive Betrachtungsweise
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Erwerbsminderung auf "nicht absehbare Zeit" iS des § 43 Abs 1 S 2 und Abs 2 S 2 SGB 6 liegt vor, wenn eine rentenrelevante Leistungseinschränkung über einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten besteht.
2. Dies folgt im Rückschluss aus der Regelung des § 101 Abs 1 SGB 6. Bei einer weniger als 6 Monate andauernden Leistungseinschränkung handelt es sich um ein vorübergehendes Leistungshindernis im Sinne eines Behandlungsleidens ohne erwerbsmindernden Dauereinfluss, dessen Absicherung in den Risikobereich der Gesetzlichen Krankenversicherung fällt.
3. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Leistungsminderung auf "nicht absehbare Zeit" vorliegt, ist eine retrospektive Betrachtungsweise geboten.
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 2. April 2012 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach dem Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI). Umstritten ist insbesondere, ob bei der Klägerin eine Erwerbsminderung in rentenberechtigendem Ausmaß erst zu dem Zeitpunkt vorgelegen hat, in dem die für einen Rentenanspruch erforderliche gesetzliche Vorversicherungszeit erfüllt war (2. Januar 2008) oder bereits zu einem früheren Zeitpunkt bestanden hat.
Die 1959 geborene Klägerin verfügt über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Sie arbeitete als Datentypistin, Telefonistin und Kellnerin bei verschiedenen Arbeitgebern. Zuletzt ging sie in der Zeit vom 15. Juli 2004 bis zum 31. August 2005 einer versicherungsfreien geringfügigen Beschäftigung als Raumpflegerin nach. Im Zeitraum vom 19. Dezember 1997 bis 19. Juni 1998 war die Klägerin arbeitslos ohne Leistungsbezug. Auch in der Folgezeit wurden von ihr keine rentenrechtlichen Zeiten zurückgelegt. Erst im Januar 2005 sowie ab dem 1. März 2005 bezog sie Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II), für die Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet wurden. Seit Juli 2006 ist die Klägerin arbeitsunfähig bzw. arbeitslos und bezieht Lohnersatzleistungen in gesetzlichem Umfang.
Die Klägerin beantragte am 22. August 2007 bei der Beklagten vor dem Hintergrund einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule die Gewährung einer stationären Leistung zur medizinischen Rehabilitation. Zuvor war bei der Klägerin am 24. Mai 2007 eine dorsale Spondylodese sowie am 31. Mai 2007 eine ventrale Interpositionsspondylodese im Lendenwirbelsäulensegment L 3/4 durchgeführt worden. Die Klägerin absolvierte die ihr durch die Beklagte bewilligte Rehabilitationsmaßnahme in der Zeit vom 4. bis 25. Oktober 2007 in der Klinik PQ. in KC., aus der sie wegen fortbestehender Funktionsdefizite und neurologischer Ausfallerscheinungen im arbeitsunfähigen Zustand mit fortbestehender Behandlungsbedürftigkeit entlassen wurde. Ferner attestierte man der Klägerin im Rehabilitationsentlassungsbericht vom 7. November 2007 bei weiterer gesundheitlicher Stabilisierung ein vollschichtiges Leistungsvermögen für körperlich leichte Arbeiten.
Am 30. März 2009 stellte die Klägerin den hier maßgeblichen Rentenantrag bei der Beklagten. Zur Begründung ihres Begehrens legte sie einen Befundbericht der Fachärztin für Allgemeinmedizin QQ. vom 14. Mai 2009 sowie zahlreiche weitere Krankenunterlagen vor.
Die Beklagte veranlasste daraufhin am 24. Juni 2009 eine Untersuchung der Klägerin in der Ärztlichen Untersuchungsstelle OT. Der untersuchende Arzt Dr. med. WW. diagnostizierte in seinem Gutachten vom 23. Juli 2009 ein chronisches Wirbelsäulensyndrom nach Bandscheibenoperation L 3/4 (09/2006) und dorsaler Spondylodese sowie ventraler interkorporeller Spondylodese L 3/4 (05/2007) mit deutlichen Geh- und Gleichgewichtsstörungen bzw. erheblichen Bewegungseinschränkungen, eine Belastungsinsuffizienz des linken Kniegelenks nach operativ versorgter Tibiakopffraktur (05/2009), rezidivierende depressive Verstimmungen, Übergewicht, ein mit Atemmaske gut kompensiertes Schlafapnoesyndrom, eine Harninkontinenz Grad I sowie eine Sarkoidose und stellte ein aufgrund dieser Erkrankungen aufgehobenes Leistungsvermögen fest. Dieses aufgehobene Leistungsvermögen bestehe bei retrospektiver Betrachtung aufgrund der fehlenden Beschwerdebesserung bzw. dem fehlenden Erfolg der 2007 durchgeführten Rehabilitationsmaßnahme bereits seit der am 24. Mai 2007 erfolgten Wirbelsäulenoperation.
Gestützt auf diese Leistungsbeurteilung wertete die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation vom 22. August 2007 in Anwendung des § 116 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI als Rentenantrag und lehnte diesen durch Bescheid vom 30. Juli 2009 unter Verw...