Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld. Wohnsitz. gewöhnlicher Aufenthalt. Asylbewerber. Aufenthaltsgestattung. Ausweisungsverfügung. Daueraufenthalt. Prognose
Leitsatz (amtlich)
Die bestehende Ausreisepflicht eines geduldeten Ausländers oder eines Ausländers, dessen Aufenthalt lediglich nach § 55 AsylVerfG zur Durchführung des Asylverfahrens gestattet ist, steht der Annahme eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts nicht grundsätzlich entgegen. Für asylsuchende oder anderweitig nach dem Ausländergesetz geduldete Kinder von ansonsten Kindergeldberechtigten kommt es deshalb im Rahmen des § 2 Abs. 5 BKGG maßgeblich darauf an, ob bei diesen Kindern die Prognose eines nicht absehbaren Daueraufenthalts in der Bundesrepublik gerechtfertigt ist (Abgrenzung zu BSG, Urt. v. 10.7.1997 – 14/10 RKg 21/95 = SozR 3-5870 § 2 Nr. 39).
Normenkette
BKGG § 2 Abs. 5; SGB I § 30 Abs. 2; AuslG §§ 11, 55, 69; AsylVerfG § 55
Verfahrensgang
SG Marburg (Urteil vom 10.10.1996; Aktenzeichen S-5a/Kg-532/94) |
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 10. Oktober 1996 aufgehoben. Unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Februar 1994 und des Widerspruchsbescheides vom 22. August 1994 wird die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Kinder R., J., Sch. und R. K. in der Zeit ab Juli 1993 bis Dezember 1995 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten. Im übrigen haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt für seine Pflegekinder R. (geb. 1982), J. (geb. 1984), Sch. (geb. 1988) und R. (geb. 1989) ab Juli 1993 Kindergeld für die Zeit bis Dezember 1995.
Der 1958 geborene Kläger lebt seit 1981 in der Bundesrepublik Deutschland. Er ist seit Mai 1995 deutscher Staatsangehöriger. Vorher besaß er die Staatsangehörigkeit von Afghanistan. Bis zu seiner Einbürgerung verfügte der Kläger während des streitbefangenen Zeitraums über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
Die Kinder R., J., Sch. und R., die alle den Familiennamen K. tragen, reisten im Dezember 1992 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie leben seither in einem gemeinsamen Haushalt mit dem Kläger und dessen Ehefrau Z.. Der Kläger ist der Onkel dieser Kinder. Deren Eltern sind zum Zeitpunkt der Einreise in Afghanistan verblieben. Ob die Eltern noch leben und wo sie sich in Afghanistan aufhalten, ist ungeklärt. Nach dem Vortrag des Klägers gegenüber dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge war der Vater der vier Kinder zum Zeitpunkt von deren Ausreise in Afghanistan in der Gewalt der dortigen M. und soll später in Afghanistan umgekommen sein.
Durch Beschluss des Amtsgerichts Marburg vom 19. Januar 1993 im Verfahren 3 VII K 4787 wurde die Feststellung getroffen, dass die elterliche Sorge der Eltern der Kinder R., J., Sch. und R. ruhe; der Kläger wurde gleichzeitig zum Vormund dieser Kinder bestellt.
Am 2. Februar 1993 beantragte der Kläger für die vier Kinder die Gewährung von politischem Asyl. Während des laufenden Asylverfahrens war der Aufenthalt der Kinder nach §§ 55, 63 Asylverfahrensgesetz (AsylVerfG) gestattet. Der Asylantrag wurde vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge durch Bescheid vom 29. November 1993 abgelehnt und die Kinder zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland aufgefordert; gleichzeitig wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 53 Abs. 4 Ausländergesetz (AuslG) vorliegen, die Kinder also nicht nach Afghanistan abgeschoben werden dürfen. Die hiergegen gerichtete Klage wurde vom Verwaltungsgericht Gießen durch Urteil vom 28. März 1994 (Az. 2 E 16902/93.A, 2 E 16903/93.A, 2 E 19904/93.A und 2 E 16905/ 93.A) abgewiesen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen ist rechtskräftig geworden. Im Anschluss an das Asylverfahren wurde vom Oberbürgermeister der Stadt Marburg eine Duldungsbescheinigung nach § 69 Abs. 2 AuslG ausgestellt, die über den streitbefangenen Zeitraum hinaus verlängert worden ist. Seit dem 16. April 1996 verfügen die Kinder über eine Aufenthaltsbefugnis, die zunächst für die Dauer von zwei Jahren erteilt wurde.
Einen im März 1993 gestellten Antrag auf Kindergeld für die Kinder R., J., Sch. und R. lehnte die Beklagte im August 1993 ab. Während des seinerzeitigen Verwaltungsverfahrens hatte die Beklagte bei der Ausländerbehörde der Stadt Marburg eine Auskunft eingeholt, die die Stadt Marburg am 20. Juli 1993 dahingehend beantwortete, dass auch im Falle einer Ablehnung des damals noch nicht rechtskräftig entschiedenen Asylantrags dieser Kinder von deren Abschiebung abgesehen werde.
Am 21. Januar 1994 beantragte der Kläger erneut die Gewährung von Kindergeld für seine Pflegekinder. Seine Ehefrau stimmte einer Leistungsgewährung an den Kläger zu. Die Beigeladene, die dem Kläger während des streitbefangenen Zeitraums Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bzw. Pflegegeld nach § 22 BSHG gewährte, ...