Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. Verzögerungsrüge nach Anfrage des Ausgangsgerichts zur Fortführung der Klage. kein Rechtsmissbrauch. Vielkläger. viele parallel geltend gemachte Klagen. verzögerndes Prozessverhalten. erkennbar fehlendes Rechtsschutzbedürfnis der Parallelklage. Wiedergutmachung auf andere Weise. keine Geldentschädigung. verspätete Klageerwiderung. Überwachung der gesetzten Frist durch das Gericht. keine Kompensation der vorinstanzlichen Verfahrensdauer durch schnelles isoliertes Prozesskostenhilfeverfahren beim BSG
Leitsatz (amtlich)
1. Zu den Voraussetzungen einer unwirksamen, weil zweckwidrig und daher rechtsmissbräuchlich erhobenen Verzögerungsrüge.
2. Zu der bei der Beurteilung einer unangemessenen Verfahrensdauer anzustellenden Gesamtabwägung und den dabei zu berücksichtigenden Umständen.
3. Eine Feststellung der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens ist trotz ihres Ausnahmecharakters jedenfalls dann ausreichend, wenn der mit dem Verfahren erstrebte Vorteil erkennbar geringfügig oder gar nicht (mehr) erreichbar und/oder die Rechtsverfolgung erkennbar aussichtslos ist und/oder der Entschädigungskläger auf Grund seines Gesamtverhaltens wesentlich zur Verzögerung beigetragen hat.
Orientierungssatz
1. In den Fällen, in denen ein Kläger mehrere Verfahren anhängig gemacht hat und die konkrete Klage deshalb erkennbar nicht mehr zu einer Verbesserung der Lebenssituation des Betroffenen führen kann oder sich als offensichtlich unzulässig oder unbegründet darstellt, reicht in aller Regel eine Wiedergutmachung auf andere Weise als durch die Zubilligung einer Entschädigungszahlung aus.
2. Zusätzlich ist unter dem Gesichtspunkt des klägerischen Prozessverhaltens bei der Gesamtbewertung der überlangen Verfahrensdauer zu berücksichtigen, wenn der Kläger seine Ansprüche wiederholt parallel geltend gemacht hat und die Verfahrenssituation durch die wiederholte Klageerhebung (uU zu einem Zeitpunkt, zu dem das jeweilige Begehren wegen eines ausstehenden Bescheids beziehungsweise offenen Widerspruchsverfahrens unzulässig gewesen ist) erheblich zur Unübersichtlichkeit der Prozesssituation und der Verzögerung beigetragen hat.
3. Weiter kann in diesem Zusammenhang nicht unberücksichtigt bleiben, wenn der Kläger eine große Vielzahl von Verfahren beim Sozialgericht anhängig gemacht hat (hier: ua 30 Verfahren von 2011 bis 2016). Unter diesen Umständen muss ein Kläger damit rechnen, dass es bei seinen Verfahren zu Verzögerungen kommen kann, und zwar auch unabhängig von konkret beschreibbaren Hindernissen wie der Aktenübersendung an andere Gerichte.
4. Eine Verzögerung wegen verspäteter Klageerwiderung des Beklagten ist dem Gericht anzulasten, wenn es die hierzu gesetzte Frist nicht überwacht hat.
5. Die schnelle Bearbeitung eines isolierten Prozesskostenhilfeverfahrens zur Einlegung einer Nichtzulassungsbeschwerde beim BSG kann nicht zur Kompensation einer überlangen Verfahrensdauer in der Vorinstanz herangezogen werden, da ein solches Verfahren den Eintritt der Rechtskraft nicht hinauszuschieben vermag.
Nachgehend
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
IV. Der Streitwert wird auf 1.200,- Euro festgesetzt.
Tatbestand
Der Kläger macht einen Anspruch auf Entschädigung in Geld wegen der nach seiner Auffassung unangemessenen Dauer des vor dem Sozialgericht Marburg unter dem Aktenzeichen S 8/5 AS 212/12 geführten Verfahrens geltend.
Das Ausgangsverfahren betraf vom Kläger beantragte Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben an den Berufsförderungswerken (BfW) D-Stadt oder E-Stadt und hatte folgenden Hintergrund: Der im Oktober 1970 geborene Kläger erlitt im Jahre 1991 einen Sport- und im Jahr 1994 einen Autounfall und leidet an verschiedenen Behinderungen. Er hat mehrere Fächer studiert, jedoch, soweit ersichtlich, keinen Studienabschluss erreicht. Seit dem 1. Januar 2005 erhält er Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) von dem Beigeladenen. In diesem Rahmen - aber auch im Verhältnis zu anderen Sozialleistungsträgern - waren immer wieder Ansprüche des Klägers auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben streitig.
So erhob der Kläger bereits im Jahre 2005 eine „Untätigkeits- und Verpflichtungsklage“ zum Sozialgericht Marburg - S 5 AS 82/05 -, wobei er unter anderem beantragte, den Beigeladenen zu verpflichten, ihm „die beantragte Ausbildung zum Dipl. Betriebswirt (FH) im BfW D-Stadt vollumfänglich zu gewähren“ und ihn „unverzüglich im BfW D-Stadt für die Ausbildung zum Dipl. Betriebswirt (FH) anzumelden“. Das Sozialgericht Marburg wies die Klage durch Urteil vom 29. Oktober 2007 ab. Im Berufungsverfahren vor dem Senat - L 6 AS 8/08 - erklärte der Beigeladene in der mündlichen Verhandlung am 13. Juli 2011: „Dass der Kläger einen Anspruch auf berufli...