Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Fortwirkung des Aufenthalts- und Freizügigkeitsrechts als Arbeitnehmer bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit. Beschäftigung für genau ein Jahr. Regelungslücke. europarechtskonforme Auslegung. sozialgerichtliches Verfahren. Berufungsverfahren. Gegenstand des Klageverfahrens. vorläufiger Leistungsbescheid aufgrund einstweiliger Anordnung. Ausführungsbescheid. kein Vorliegen eines neuen Verwaltungsakts
Orientierungssatz
1. Auf einen Unionsbürger, der genau ein Jahr befristetet versicherungspflichtig beschäftigt war, ist unter europarechtkonformer Auslegung des Art 7 Abs 3 EGRL 38/2004 die Regelung des § 2 Abs 3 S 1 Nr 2 FreizügG/EU 2004 über einen fortwirkenden Arbeitnehmerstatus anzuwenden. Er verfügt damit über ein unbegrenztes Aufenthaltsrecht und der Leistungsausschluss gem § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 findet keine Anwendung.
2. Vorläufige Leistungsbescheide, die aufgrund der Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren von der Bundesagentur für Arbeit wider Willen ergangen sind, sind nicht Gegenstand des Verfahrens nach § 96 SGG, da es sich um bloße deklaratorische und notwendige Ausführungsbescheide und nicht um eigenständige Verwaltungsakte handelt (entgegen LSG Stuttgart vom 23.4.2020 - L 7 AS 1145/19).
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 17. Januar 2018 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsrechtszugs zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) im Zeitraum 8. Oktober 2013 bis 31. März 2014, insbesondere um das Eingreifen eines Leistungsausschlusses im Fall des Klägers.
Der im Jahr 1980 geborene Kläger hat allein die rumänische Staatsangehörigkeit. Er reiste im Januar 2012 ins Bundesgebiet ein und lebte zunächst in D-Stadt. Im Zeitraum 1. März 2012 bis 28. Februar 2013 übte er eine versicherungspflichtige Beschäftigung als Servicekraft in einer C-Filiale aus (vgl. Verdienstabrechnung Februar 2013, Verwaltungsakte (VA) Bl. 18). Das Beschäftigungsverhältnis war zunächst aufgrund eines Vertrages vom 29. Februar 2012 auf den Zeitraum 1. März 2012 bis 31. August 2012 befristet. Am 1. September 2012 wurde der Vertrag bis zum 28. Februar 2013 verlängert (Änderungsmitteilung des Betreibers D. Restaurant GmbH & Co KG vom 1. September 2012, Gerichtsakte Bl. 140).
In der Folgezeit bezog der Kläger zunächst Arbeitslosengeld nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung (SGB III) und ergänzende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom Jobcenter Hanau (Bescheid vom 28. Juni 2013 für den Zeitraum 1. Mai bis 31. Oktober 2013, VA Bl. 71).
Zum 1. Oktober 2013 verzog der Kläger nach A-Stadt. Dort hatte er bereits am 17. September 2013 bei dem Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes beantragt. Das Jobcenter Hanau stellte durch Bescheid vom 21. Oktober 2013 die Leistungsgewährung an den Kläger zum 7. Oktober 2013 ein (VA Bl. 81). Der Beklagte lehnte seinerseits den Leistungsantrag des Klägers mit Bescheid vom 31. Oktober 2013 ab. Dies begründete er mit dem gesetzlichen Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, da der Kläger sein Aufenthaltsrecht allein aus dem Grund der Arbeitsuche herleite (VA Bl. 88).
Gegen die Entscheidung der Beklagten legte der Kläger mit Schreiben vom 5. November 2013 Widerspruch ein (VA Bl. 97). Parallel stellte er einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Darmstadt, woraufhin der Beklagte mit Beschluss vom 11. November 2013 verpflichtet wurde, ihm vorläufig Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 5. November 2013 bis 31. März 2014 zu erbringen (VA Bl. 80 (Paginierung fehlerhaft, manche Blätter doppelt)). Diese Anordnung setzte der Beklagte durch zwei Bescheide vom 18. November 2013 für den Monat November 2013 und die Monate Dezember 2013 bis März 2014 um, mit denen er dem Kläger „vorläufig" und „ausschließlich aufgrund des Beschlusses im Eilverfahren“ Leistungen gewährte (VA Bl. 84, 87). Den Widerspruch wies der Beklagte durch Bescheid vom 26. November 2013 zurück. Der Kläger unterliege dem Leistungsausschluss und könne insbesondere auch kein Freizügigkeitsrecht aus der vorherigen Beschäftigung bei C. herleiten. Diese habe nicht länger als ein Jahr gedauert, sondern genau ein Jahr. Eine Fortwirkung des Arbeitsnehmerstatus über einen längeren Zeitraum als sechs Monate setze jedoch nach der Regelung des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) gerade ausdrücklich eine Dauer des Beschäftigungsverhältnisses von mehr als einem Jahr voraus (VA Bl. 101).
Der Kläger hat am 11. Dezember 2013 ...