Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. häusliche Krankenpflege. Beatmungspflegepatient. 24-Stunden-Beatmungspflege durch Pflegefachkraft. keine Anrechnung der von Angehörigen erbrachten Zeiten der Grundpflege auf die Zeiten der Behandlungspflege. Nebeneinanderstehen von Ansprüchen auf häusliche Krankenpflege und Pflegegeld
Leitsatz (amtlich)
1. Bei Beatmungspflegepatienten, die einer 24-stündigen Beatmungspflege durch ein qualifiziertes Pflegepersonal bedürfen, kommt eine Anrechnung von Zeiten der Grundpflege auf die Zeiten der Behandlungspflege nicht in Betracht, wenn die Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch Angehörige erbracht werden.
2. Der Anspruch auf häusliche Krankenpflege und Pflegegeld stehen insoweit nach Leistungserbringung und Zuständigkeit getrennt uneingeschränkt nebeneinander.
Tenor
Die Berufung der Beklagten wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor des Urteils des Sozialgerichtes Kassel vom 11. Juli 2007 zu 1 und 2 wie folgt gefasst wird:
Der Bescheid vom 4. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. November 2006 wird aufgehoben, soweit die Behandlungspflege dort zeitlich gekürzt worden ist.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte in dem Zeitraum vom 1. Oktober 2006 bis zum 30. September 2007 zur Versorgung der Tochter der Kläger mit der verordneten 24-stündigen Behandlungspflege verpflichtet gewesen ist.
Die Beklagte hat den Klägern auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um den Umfang der Versorgung mit häuslicher Krankenpflege.
Die 2000 geborene und 2008 verstorbene Tochter der Kläger, die familienversichertes Mitglied der Beklagten war, erkrankte im August 2003 an einer unklaren Systemerkrankung und litt unter anderem an einem Hypereosinophilie-Syndrom DD mit Lymphozytenregulationsstörung und schwerer erosiver Haut- und Schleimhautbeteiligung, rezidivierenden Sepsitiden, einer passageren Leberfunktionsstörung mit Hypalbuminämie und Ödemen, einer chronischen Expositionskeratopathie bei Lagophthalamus beidseits und einer passageren Magenausgangsstenose. Nach verschiedenen Krankenhausaufenthalten befand sich die Tochter der Kläger seit April 2005 im häuslichen Bereich. Sie war täglich 24 Stunden beatmungspflichtig, katheterisiert und wurde über eine PEG-Sonde ernährt. Aufgrund der häufig erforderlichen Verbandswechsel benötigte die Tochter der Kläger eine spezielle Lagerung, bedarfsabhängig erfolgte ein endotracheales Absaugen zur Freihaltung der oberen Luftwege. Wegen der Beatmungspflege und des Risikos plötzlich auftretender Komplikationen (akut eintretende Ateminsuffizienz) war die kontinuierliche Anwesenheit einer qualifizierten Krankenpflegefachkraft erforderlich. Von der beigeladenen Pflegekasse bezogen die Kläger ab dem 18. April 2005 Pflegegeld nach Pflegestufe II und ab dem 1. Dezember 2006 nach Pflegestufe III, nachdem die Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 13. Juni 2005 einen durchschnittlichen täglichen grundpflegerischen Mehrbedarf der Tochter der Kläger von 206 Minuten und vom 2. November 2006 einen solchen von 239 Minuten ergeben hatten. Sämtliche Maßnahmen der Krankenbeobachtung und der sonstigen medizinischen Behandlungspflege wurden von Fachkräften des Gemeinnützigen Vereins für häusliche Alten- und Krankenpflege C. e.V. durchgeführt. Die Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung erfolgten unter der Woche durch die Mutter, die ausgebildete Bürofachkraft ist, und am Wochenende durch den berufstätigen Vater, der den Beruf des Kfz-Mechanikers erlernt hat.
Ab April 2005 übernahm die Beklagte zunächst die Kosten der 24-stündigen Behandlungspflege jeweils für 3 Monate befristet nach Vorlage entsprechender ärztlicher Verordnungen. Mit Bescheid vom 4. September 2006 wies die Beklagte die Kläger darauf hin, dass ab dem 1. Oktober 2006 von der beantragten häuslichen Krankenpflege entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes der Zeitanteil abgezogen werde, der auf die Grundpflege entfalle. Während der Erbringung der Grundpflege trete die Behandlungspflege in den Hintergrund, so dass die Kostenzusage für die häusliche Krankenpflege um täglich 3 Stunden und 26 Minuten zu kürzen sei. Den Widerspruch der Kläger wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23. November 2006 zurück.
Auf den Antrag der Kläger vom 18. Oktober 2006 hat das Sozialgericht Kassel mit Beschluss vom 13. November 2006 der Beklagten im Rahmen eines Verfahrens auf einstweiligen Rechtsschutz aufgegeben, die Tochter der Kläger vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache auf der Grundlage der Verordnung des Kinder- und Jugendarztes D. vom 1. September 2006 über den 30. September 2006 hinaus im Umfang von 24 Stunden täglich mit Beatmungspflege im Rahmen der häuslichen Krankenpflege als Sachleistung auch insoweit zu versorgen, als lediglich eine Überwachung/Beobachtung von Vital- und Beatmungs...