Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Wie-Berufskrankheit. Posttraumatische Belastungsstörung. Straßenwärter als Ersthelfer. bestimmte Personengruppe. besondere Einwirkungen. generelle Geeignetheit. genereller Ursachenzusammenhang. aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand. gesicherte Erkenntnisse. aktuelle Literaturrecherche. Nichtbefassung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Berufskrankheiten" beim BMAS. Stand Juli 2019

 

Leitsatz (amtlich)

1. Straßenwärter sind als Ersthelfer besonderen Einwirkungen durch die Konfrontation mit traumatischen Ereignissen anderer Personen (zB deren tatsächlichem oder drohendem Tod oder deren ernsthafter Verletzung) in einem erheblich höheren Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt.

2. Für die Anerkennung einer PTBS bei Straßenwärtern als Wie-Berufskrankheit durch das wiederholte Erleben traumatischer Ereignisse bei anderen Personen fehlt es an der Voraussetzung eines generellen Ursachenzusammenhangs zwischen dieser Erkrankung und den besonderen Einwirkungen.

3. Nach aktuellem wissenschaftlichen Erkenntnisstand liegen keine gesicherten Erkenntnisse dafür vor, dass allein die wiederholte Erfahrung der Ersthelfer mit traumatischen Ereignissen bei anderen Personen generell geeignet ist, eine spätere PTBS zu verursachen. Nur wenn das Vollbild einer PTBS zu einem beliebigen früheren Zeitpunkt hinreichend zeitnah nachweisbar ist, ist die weitere Erfahrung traumatischer Ereignisse durch Ersthelfer generell geeignet, die vorbestehende PTBS im Sinne einer Retraumatisierung zu reaktivieren.

 

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gießen vom 1. Juli 2014 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Anerkennung einer PTBS durch das wiederholte Erleben traumatischer Ereignisse bei anderen Personen „wie eine Berufskrankheit“ (Wie-Berufskrankheit) nach § 9 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII).

Der 1960 geborene Kläger ist seit 2013 Rentner. Während seines gesamten Berufslebens seit Beginn seiner Ausbildung zum Straßenwärter am 1. August 1976 war er als Straßenwärter und seit 2003 als Streckenwart tätig gewesen, zuletzt beim Amt für Straßen und Verkehrswesen in der Autobahnmeisterei A-Stadt. Diese Tätigkeit umfasste (im Sommer bei Normalschicht mit Rufbereitschaft und Wochenenddienst, im Winter im Dreischichtdienst) die Kontrolle der Verkehrssicherungspflicht, die Überprüfung von Straßenschäden und die Aufnahme von Verkehrsunfällen. Bei Verkehrsunfällen ist es Aufgabe der Straßenmeisterei am Unfallort zu bleiben, bis von Seiten des Notarztes, der Feuerwehr und der Kriminalpolizei alles geregelt ist.

Die Krankenkasse des Klägers, AOK - Die Gesundheitskasse in Hessen, meldete am 6. April 2011 einen Erstattungsanspruch bei der Beklagten an. Darin werden als Diagnosen des Klägers eine depressive Episode und Reaktion auf schwere Belastung angeführt. Der Kläger habe telefonisch mitgeteilt (E-Mail vom 1. April 2011), seine derzeitige Arbeitsunfähigkeit könne man nicht an bestimmten Unfällen oder an der Menge der Unfälle in letzter Zeit festmachen. Es sei bei ihm einfach die Summe der Erlebnisse aus über 30 Dienstjahren, die dazu geführt hätten, dass er seine Tätigkeit nicht mehr machen könne. In einem Erstberatungsgespräch bei der AOK am 11. Mai 2010 hatte der Kläger angegeben, er habe ein posttraumatisches Belastungstrauma, durch seine Arbeit habe er sehr viel mit Unfällen und verletzten Menschen und teilweise auch sehr vielen Verkehrstoten zu tun, er habe damit schon länger zu kämpfen, habe aber immer gedacht, er schaffe es noch. Es werde aber immer belastender und schwerer und im Moment schaffe er es nicht ohne professionelle Hilfe. Nach dem Befundbericht des behandelnden Arztes für Allgemeinmedizin C. nahm der Kläger wegen einer ausgeprägten depressiven Symptomatik, fehlender psychischer Belastbarkeit und Frustrationsintoleranz an einer Psychotherapie teil (Bericht vom 17. Juni 2010). Für die Entstehung der Erkrankung sei die Traumatisierung durch schwere Verkehrsunfälle verantwortlich, mit denen der Kläger auf Grund seiner Tätigkeit bei der Autobahnmeisterei konfrontiert sei (Anzeige des Arztes vom 30. Mai 2011 und Bericht vom 7. Juli 2011). Der Arbeitgeber, D. Straßen- und Verkehrsmanagement, teilte mit Schreiben vom 23. April 2013 mit, der Kläger sei wegen seiner berufsbedingten Traumatisierung seit einigen Jahren auf Kosten der Krankenkasse in psychologischer Behandlung. Da er dort die Höchstgrenze für eine tiefenpsychologisch fundierte Therapie erreicht habe und die Krankenkasse keine weiteren Therapiekosten übernehme, werde um Prüfung gebeten, ob und in welchem Umfang die Beklagte Therapiekosten übernehmen könne. Die Beklagte teilte der AOK mit Schreiben vom 18. Mai 2011 mit, da die Erkrankung des Klägers nicht auf ein konkretes Unfallereignis bezogen werden könne, kom...

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