Entscheidungsstichwort (Thema)

Versorgung mit einem Behindertendreirad

 

Orientierungssatz

1. Ob die Versorgung mit einem Behindertendreirad als Hilfsmittel von der Leistungspflicht der Krankenversicherung erfasst wird, lässt sich nicht generell regeln, sondern ist nach den gesetzlichen Vorgaben für jeden Einzelfall zu prüfen. Der Krankenversicherung obliegt allein die medizinische, nicht aber eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation.

2. Die Förderung der Selbstbestimmung der behinderten Menschen und seiner gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft durch Versorgung mit einem Hilfsmittel fällt nur dann in die Leistungspflicht der Krankenversicherung, wenn sie die Auswirkungen der Behinderung nicht nur in einem bestimmten Lebensbereich, sondern im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft.

3. Das allgemeine Grundbedürfnis des Versicherten auf einen Bewegungsradius, den ein Gesunder üblicherweise zu Fuß zurücklegt, wird durch die Versorgung mit einem Stehgerät oder einem Aktivrollstuhl nicht befriedigt. Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass der Versicherte bei der Nutzung des Behindertendeirades auf die Hilfe seiner Pflegeperson angewiesen ist.

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 11. September 2006 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Versorgung mit einem Behindertendreirad.

Der bei der Beklagten versicherte Kläger ist im Jahr 1984 geboren. Bei ihm besteht eine infantile Cerebralparese mit ausgeprägter Tetraspastik rechts mehr als links, Beinverkürzung links, erheblicher Dysiadochokinese (gestörte Koordination), Teilbewegungsstörungen im Bereich der Wirbelsäule, eine progrediente Hüftbeuge-/Adduktionskontraktur, ein spastisch pes plano valgus, schwere grob- und feinmotorische Störungen, Hüftluxation links. Der Kläger erhielt im Kindesalter auf Kosten der Beklagten ein Therapierad mit zwei Stützrädern. Aufgrund einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Hessen (MDK) vom 15. Januar 2001 bezieht der Kläger Pflegegeld nach der Pflegestufe III. Der Kläger ist in Besitz eines Schwerbehindertenausweises mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie mit den Merkzeichen “G„ und “aG„. Er ist ausgestattet u.a. mit Gehstöcken und einem Rollstuhl.

Am 29. Mai 2002 ging bei der Beklagten der Antrag des Klägers auf Versorgung mit einem Therapierad ein. Dazu legte er eine entsprechende Hilfsmittelverordnung von Dr. EW. (Facharzt für Orthopädie, Sportmedizin/Chirotherapie) und dessen Arztbrief vom 20. Juni 2001 sowie einen Kostenvoranschlag der Firma G. Reha Technik für ein Haverich-Therapierad vor. Dr. EW. führt in seinem Arztbrief aus, nach intensivem und jahrelangem Training sei der Kläger in der Lage, seine Mobilität für komplexmotorische Bewegungsmuster zu erhalten. Dies setzte jedoch die konsequente Fortführung des Trainings voraus. Mit dem bisherigen Therapierad sei dem Kläger dieses Training möglich gewesen. Da dieses Therapierad nunmehr zu klein geworden sei, werde der Antrag auf Ausstattung mit einem neuen Therapierad gestellt. Sollte diese Versorgung nicht erfolgen, so sei nicht nur mit sekundären Schäden im Sinne einer Verschlechterung der Mobilität und des Gesamtbewegungsmusters zu rechnen, sondern auch mit einer Zunahme der Kontraktur und der Gelenkfehlstellung sowie mit einer drastischen Reduzierung der Muskelleistung.

Der MDK (Dr. E., Facharzt für Orthopädie) vertrat die Auffassung, eine Indikation für die beantragte Versorgung liege nicht mehr vor. Die Therapieziele ließen sich auch auf anderem Wege erreichen.

Die Beklagte lehnte daraufhin den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 4. Juni 2002 ab. Dazu führte die Beklagte aus, die Versorgung mit einem Therapierad falle nicht in den Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung, weil ein Therapierad in überwiegendem Maße Merkmale eines handelsüblichen Fahrrades aufweise. Bei Kindern erfülle das Therapierad hohe therapeutische Anforderungen, während bei Jugendlichen und Erwachsenen Zwei- und Dreiräder primär der Fortbewegung dienten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts seien Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, auch wenn sie wegen einer Krankheit angeschafft würden, nicht vom Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenkasse erfasst. Dies gelte auch für Gegenstände, die wegen einer Krankheit oder Behinderung benötigt und besonders gestaltet seien. Die Kosten könnten deshalb für das Therapierad nicht übernommen werden.

Die Mutter erhob für den Kläger Widerspruch und führte ergänzend aus, die Nutzung eines Therapierades bedeute für ihn die einzige Möglichkeit, sich selbständig fortzubewegen. Auch sei die Bewegung auf dem Fahrrad mit den therapeutischen Maßnahmen wie Krankengymn...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge