Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit. Erwerbsunfähigkeit. Verschlossenheit des Arbeitsmarktes. Zugang zu den Arbeitsplätzen. gesundheitliche Einschränkung des Arbeitsweges. 500 m Fußwegstrecke. öffentliche Verkehrsmittel

 

Leitsatz (amtlich)

1. Dem leistungsgeminderten, vollschichtig einsetzbaren, Versicherten ist der Arbeitsmarkt dann verschlossen, wenn er bei Fehlen privater Verkehrsmittel und eingeschränkt möglicher Fußwegstrecke die Üblichen Wege von der Wohnung bis zur nächsten Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels und von der Haltestelle zum Arbeitsplatz nicht mehr zurücklegen kann; es liegt Berufs- und Erwerbsunfähigkeit vor, §§ 1246 Abs. 2, 1247 Abs. 2 RVO.

2. Es gibt keinen Erfahrungssatz, daß der Fußweg zwischen Wohnung und Haltestelle sowie zwischen Haltestelle und Arbeitsplatz meist länger als 5 Minuten ist (Abweichung vom BSG – 12 RJ 74/71 – 1972-05-17). Die zeitliche Einschränkung des zumutbaren Fußwegs ist als Maßstab ungeeignet, da die erreichbare Wegstrecke ohne Angabe der Geschwindigkeit nicht feststellbar ist.

3. Bei einer zumutbaren Fußwegstrecke von 500 m werden im Bereich der exemplarisch untersuchten Verkehrslinienpläne des Frankfurter Verkehrsverbundes sowie der Stadt Darmstadt (HEAG) die überwiegende Anzahl der Wohnungen und Betriebe erschlossen (Abweichung von BSG – 5 RJ 86/78 – 1979-09-11).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2, § 1247 Abs. 2

 

Verfahrensgang

SG Darmstadt (Urteil vom 08.11.1984; Aktenzeichen S-2/J-246/82)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 8. November 1984 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Es geht in dem Rechtsstreit noch um eine Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. wegen Berufsunfähigkeit ab 10. Januar 1983.

Der am … 1926 geborene Kläger hat nach seinen Angaben keinen Beruf erlernt und in der Zeit von 1941 bis 1978 verschiedene Hilfsarbeitertätigkeiten mit Unterbrechungen ausgeübt, zuletzt als Bauhelfer bei der Firma L.. Ab dem 1. August 1980 bezog der Kläger Leistungen der Sozialhilfe vom Landkreis …, der mit Schreiben vom 13. März 1981 den Anspruch des Klägers gegen die Beklagte auf sich übergeleitet hat.

Am 19. Februar 1981 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung von Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte zog einen Befundbericht der praktischen Ärzte Dr. S. und M. vom 7. Februar 1981 bei, die Fremdbefunde beifügten und als Diagnosen angaben: „Hypertonus, chronische Gastritis, rezidivierende Ulcus duodeni, Zustand nach operierter Ureterabgangsstenose rechts, Zustand nach Varicenoperation und Menisektomie rechts und links.” Die Beklagte holte sodann ein Gutachten bei dem Orthopäden Dr. R. ein, der am 13. Juli 1981 zu dem Ergebnis kam, daß bei dem Kläger folgende Gesundheitsstörungen vorlägen:

„Mittelgradige Arthrosis deformans beider Kniegelenke, derzeit ohne wesentlichen Reizzustand, Krampfaderleiden, Zustand nach Venenexhairese, weichteilrheumatischer Reizzustand an beiden Handgelenken ohne wesentliche funktionelle Beeinträchtigung und geringfügig linkskonvexe Fehlstellung der Rumpfwirbelsäule im Lendenwirbelsäulen-Anteil bei mäßiger osteoporotischer Kalksalzminderung und Gefügestörung, klinisch funktionell ausreichend kompensiert.”

Der Gutachter kam zum Ergebnis, der Kläger könne noch alle körperlich leichten Arbeiten in wechselnder Körperhaltung vorwiegend sitzend, mit zwischenzeitlich zumutbarem Aufstehen und Umhergehen vollschichtig verrichten. Einschränkungen hinsichtlich des Arbeitsweges ergäben sich nicht.

Im Gutachten vom 15. Juli 1981 kam Dr. R. von der Sozialärztlichen Dienststelle in … zu dem Ergebnis, daß über das fachorthopädische Gutachten hinausgehende Leistungseinschränkungen auf internistischem Gebiet nicht vorlägen. Dementsprechend lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 4. August 1981 mit der Begründung ab, bei dem Kläger lägen zwar vor: Abnutzungsschäden der Kniegelenke, Fehlhaltung und geringe Verschleißzeichen der Wirbelsäule, Hochdruck, Krampfadern und chronische Magenschleimhautentzündung; der Kläger könne jedoch noch vollschichtig leichte Arbeiten mit Einschränkungen verrichten.

Hiergegen hat der Kläger am 14. August 1981 Widerspruch eingelegt. Aufgrund einer neuen Bescheinigung der praktischen Ärzte Dr. S. und M. vom 13. August 1981 wurde noch ein urologisches Gutachten eingeholt, das Prof. H. am 13. April 1982 erstellt hat. Er kam darin zu dem Ergebnis, daß von einer kompensierten Funktionsstörung der rechten Niere ausgegangen werden müsse, die aufgrund einer jedoch stationären chronischen Pyelonephritis verändert sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 1982 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 20. Juli 1982 Klage erhoben und vorgetragen, die Beklagte habe einen Teil seiner erwerbsmindernden Körperschäden nicht angesprochen und berücksichtigt. Die B...

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