Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld. Ausländer. Abschiebestop. unbestimmte Zeit. Bürgerkriegsflüchtling. Familienlastenausgleich. Sozialhilfegesamtbedarf. Kinderfreibetrag
Leitsatz (amtlich)
1) Ein „unbestimmter” Zeitraum i.S.v. § 1 Abs. 3 BKGG liegt nicht nur dann vor, wenn der Aufenthalt von vorneherein auf eine unbegrenzte Dauer angelegt ist, also voraussichtlich mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte andauern soll. Für das Moment der Dauerhaftigkeit ist bei ausländischen Staatsangehörigen vielmehr ausreichend, daß innerhalb eines überschaubaren Zeitraums der Aufenthalt so gesichert ist, daß nicht mit einer behördlich aufgezwungenen Änderung der aufenthaltsrechtlichen Situation gerechnet werden muß.
2) Ein Abschiebestop auf „unbestimmte Zeit”, wie er nach § 1 Abs. 3 BKGG gefordert wird, liegt jedenfalls auch dann vor, wenn die – befristeten – Abschiebestopregelungen zunächst offen lassen, daß sich angesichts der politischen Verhältnisse im Herkunftsland – hier Bosnien-Herzegowina – gleichlautende Abschiebestopregelungen an die erstmalige Regelung anschließen.
3) Liegt die steuerrechtlich durch Kinderfreibeträge eingeräumte Entlastung unterhalb des Sozialhilfegesamtbedarfs der betroffenen Kinder, kann bei ausländischen Staatsangehörigen, die zur Einkommensteuer herangezogen werden, deren Aufenthalt jedoch lediglich geduldet ist, zumindest bis zum Ablauf des Jahres 1993 ein Kindergeldanspruch nicht versagt werden, weil nur durch diesen Anspruch im Zusammenwirken mit den steuerrechtlichen Regelungen dem verfassungsrechtlichen Gebot (vgl. dazu BVerfG NJW 1990 S. 2869, NJW 1990 S. 2876, NJW 1994 S. 2817) entsprochen wird, Familien mit Kindern in Höhe des Existenzminimums von der Besteuerung freizustellen.
Normenkette
BKGG § 1 Abs. 3 Fassung: 1990-07-09; AuslG § 54 Fassung: 1990-07-09
Verfahrensgang
SG Frankfurt am Main (Urteil vom 24.11.1994; Aktenzeichen S-14/Kg-780/94) |
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 24. November 1994 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger in der Zeit von Oktober 1992 bis Dezember 1993 Kindergeld für seine am 24. Juni 1987 geborene Tochter … zusteht.
Der Kläger ist 1959 geboren. Er lebte nach seinen Angaben erstmals zwischen 1972 und 1974 in der Bundesrepublik Deutschland. Im Oktober 1991 reiste der Kläger als Bürgerkriegsflüchtling erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein, nunmehr mit seiner 1964 geborenen Lebensgefährtin … und seiner Tochter …. Er lebt seither mit … und … in einem gemeinsamen Haushalt in Frankfurt am Main. Seine Tochter besucht dort seit Beginn des Schuljahres 1993/94 die Ackermannschule.
Der Kläger besitzt, ebenso wie seine Lebensgefährtin, die Staatsangehörigkeit von Bosnien-Herzegowina. Sein Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland ist seit seiner Einreise geduldet. Die erstmalige Duldung für den vorliegend streitbefangenen Zeitraum beruht auf dem Erlaß des Hessischen Ministeriums des Innern und für Europaangelegenheiten vom 7. Mai 1992 (unveröffentlicht; Az. II A 51-23 d). Mit diesem Erlaß wurde im Einvernehmen mit dem Bundesminister des Innern die Abschiebung von Personen aus Bosnien-Herzegowina gem. § 54 Ausländergesetz (AuslG) ausgesetzt und die nachgeordneten Behörden angewiesen, den Aufenthalt dieses Personenkreises nach §§ 55, 56 AuslG zu dulden. Der Erlaß vom 7. Mai 1992 war ursprünglich bis zum 7. November 1992 befristet. Er wurde in der Folgezeit – wiederum im Einvernehmen mit dem Bundesminister des Innern – für die Dauer von jeweils sechs Monaten verlängert (Erlasse vom 10.9.1992, 10.3.1993, 22.9.1993 usw.).
Entsprechend diesen Erlassen wurde auch beim Kläger verfahren. Die zunächst bis zum 7. November 1992 gültige Duldung wurde, gerechnet vom jeweiligen Antragsdatum, im streitbefangenen Zeitraum sukzessive für jeweils sechs Monate, zunächst bis zum 31. März 1993, danach bis zum 30. September 1993 bzw. bis zum 31. März 1994 verlängert. Auch derzeit wird der Aufenthalt des Klägers weiterhin geduldet.
In den Jahren 1992 und 1993 war der Kläger berufstätig. Aufgrund der ausgeübten nichtselbständigen Arbeit wurde er in beiden Jahren zur Einkommensteuer herangezogen. In 1992 hatte er bei einem Bruttoarbeitslohn von 51.912,– DM eine Einkommensteuer in Höhe von 6.975,– DM zuzüglich Solidaritätszuschlag in Höhe von 261,56 DM zu entrichten (Bescheid vom 2.7.1993), in 1993 wurde bei einem Bruttoarbeitslohn von 55.198,– DM eine Einkommensteuer vom zuständigen Finanzamt Frankfurt am Main II in Höhe von 7.775,– DM festgesetzt (Bescheid vom 16.9.1994). Für beide Jahre war dem Kläger vom Finanzamt ein Kinderfreibetrag von jeweils 4.104,– DM zugebilligt worden.
Im Dezember 1992 beantragte der Kläger die Zahlung von Kindergeld für seine Tochter …. Die Mutter von … war mit der Zahlung des Kindergeldes an den Kläger einverstanden.
Durch Besche...