Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflegeversicherung. Hilfebedarf, auch nachts. Pflegestufe III. Schwerstpflegebedürftige. Richtlinien
Leitsatz (amtlich)
Hilfebedarf „rund um die Uhr, auch nachts” im Sinne von § 15 Abs. 1 Nr. 3 SGB XI liegt vor, wenn im Einzelfall eine Pflegeperson den Pflegebedürftigen auch nachts wegen der Art und Schwere der Erkrankung und des Umfangs des hieraus sich ergebenden Pflegebedarfs nicht allein lassen darf.
Normenkette
SGB XI §§ 14, 15 Abs. 1 Nr. 3, §§ 17, 53a
Verfahrensgang
SG Darmstadt (Urteil vom 10.04.1997; Aktenzeichen S 10 P 954/96) |
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 10. April 1997 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist in der sozialen Pflegeversicherung die Gewährung von Pflegeleistungen nach der Pflegestufe III ab dem 1. April 1995 im Streit.
Die am … 1926 geborene Klägerin ist Mitglied der Beklagten – Pflegekasse –. Es besteht bei ihr der Zustand nach zwei Schlaganfällen … mit linksseitiger Hemiparese sowie einer erheblichen Geh- und Stehbewegungseinschränkung. Weiterhin liegen eine Hypertonie, Nierenschäden durch eine chronische Polynephritis und eine psychische Labilität vor.
Die Klägerin lebt im Erdgeschoß eines Zweifamilienwohnhauses. Sie wird von der Zeugin C. gepflegt, die im ersten Stock desselben Hauses wohnt. Die Pflegeperson ist für die Klägerin durch „Rufen” jederzeit erreichbar. Einmal in der Woche wird die Klägerin von den Mitarbeitern einer Pflegeinstitution (Sozialstation) mit einer Sitzvorrichtung geduscht.
Seit dem 1. April 1991 bezog die Klägerin Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit gemäß § 53 ff. (a.F.) des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (Gesetzliche Krankenversicherung – SGB V –). Mit Einführung der Pflegeversicherung wurde sie ohne gesonderte Antragstellung der Pflegestuffe II zugeordnet. Im Dezember 1994 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Pflegeleistungen nach der Stufe III des Elften Buches des Sozialgesetzbuches (Soziale Pflegeversicherung – SGB XI) ab dem 1. April 1995. Die Beklagte ließ die Klägerin durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Hessen (MDK) in deren häuslicher Umgebung durch Dr. M. begutachten. Dieser Arzt schätzte in seinem Gutachten vom 1. April 1995 den täglichen Zeitaufwand für notwendige Hilfe im Rahmen der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung, Mobilität) mit 135 Minuten ein und stellte eine Pflegebedürftigkeit der Klägerin nach der Pflegestufe II fest. Die Beklagte hörte die Klägerin zu diesem Gutachten an (Anhörungsschreiben vom 28. April 1995) und veranlaßte eine weitere Begutachtung durch den MDK in deren häuslicher Umgebung durch die Pflegefachkraft im MDK R. In diesem zweiten Gutachten vom 14. Juni 1995 wird festgestellt, daß bei der Klägerin ein sehr hoher Pflegebedarf bestehe, jedoch kein nächtlicher Hilfebedarf. Aus diesem Grund seien die Kriterien der Pflegestufe III nicht erfüllt.
Mit Bescheid vom 24. August 1995 lehnte die Beklagte Leistungen der Pflegestufe III aufgrund der Ergebnisse der beiden Gutachten ab. Mit ihrem dagegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, die Voraussetzungen für eine Einstufung in die Pflegestufe III seien in ihrem Fall gegeben. Sie bedürfe in allen Bereichen der Mobilität, der Ernährung und der Körperpflege der Hilfe, und zwar rund um die Uhr, auch nachts. Die Pflegekraft müsse im Notfall ständig erreichbar sein. Mit Widerspruchsbescheid vom 13. Mai 1996, dem Bevollmächtigten der Klägerin zugestellt mit Postzustellungsurkunde am 15. Mai 1996, wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung führte sie im wesentlichen an, weder im Erstgutachten vom 1. April 1995 noch im Zweitgutachten vom 14. Juni 1995 seien regelmäßig erforderliche, nächtliche Pflegeeinsätze beschrieben. Schwerstpflegebedürftigkeit im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes liege daher bei der Klägerin nicht vor. Vielmehr sei die Einstufung zutreffend in die Pflegestufe II erfolgt.
Die Klägerin hat dagegen die am 7. Juni 1996 beim Sozialgericht Darmstadt eingegangene Klage erhoben und geltend gemacht, die Beklagte lege die für eine Zuordnung in die Pflegestufe III erforderliche Voraussetzung der Betreuung „rund um die Uhr, auch nachts” falsch aus. Diese Voraussetzung erfordere nicht, daß die zu pflegende Person regelmäßig nachts aufgesucht werden müsse und tatsächlich Hilfe geleistet werde. Erforderlich sei nur, daß die Pflegeperson für diese Anforderung jederzeit erreichbar sei.
Das Sozialgericht hat einen Befundbericht von der behandelnden Ärztin E. vom 22. August 1996 eingeholt. Weiterhin hat das Sozialgericht von der Pflegeperson der Klägerin, C., ein Pflegetagebuch über den Zeitraum vom 1. Mai bis 31. Mai erstellen lassen und die Pflegeperson im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 10. April 1997 zur Pflegebedürftigkeit der Klägerin als Zeugin vernommen.
Mit Urteil vom 10. April 1...