Entscheidungsstichwort (Thema)
letzter wirtschaftlicher Dauerzustand. Unterhaltsfähigkeit. fiktive Versichertenrente
Leitsatz (amtlich)
Die Weigerung eines geschiedenen Ehemannes, eine berufliche Tätigkeit aufzunehmen, um seiner ehemaligen Ehefrau nicht unterhaltspflichtig zu werden, läßt den Schluß zu, daß er aus gleichen Gründen nach Eintritt der Erwerbsunfähigkeit die Rentenantragstellung unterlassen hat. Für die Bestimmung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes ist dann eine fiktive Versichertenrente zugrunde zu legen.
Normenkette
RVO § 1265 Abs. 1 S. 1; EheG § 58 Abs. 1, § 59 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Kassel (Urteil vom 23.10.1987; Aktenzeichen S 1/J-72/86) |
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 23. Oktober 1987 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um eine Hinterbliebenenrente an die geschiedene Ehefrau.
Die 1940 geborene Klägerin ist gelernte Einzelhandelskauffrau. Sie war mit dem Versicherten seit dem 5. Februar 1960 verheiratet. Aus der Ehe sind 3 Töchter hervorgegangen, die am … 1960, … 1961 und … 1963 geboren sind. Die Ehe wurde aus Alleinschuld des Versicherten am 27. November 1968 geschieden. Der Versicherte, der sich nicht wieder verheiratet hat, ist am 13. Dezember 1983 gestorben. Zur Zeit der Scheidung lag sein Nettoverdienst als Maler bei ca. 1.000 DM monatlich. Nach 1972 hat er nur noch gelegentlich gearbeitet. Er wohnte bei seiner Mutter und wurde von dieser auch unterhalten. Am 29. November 1978 erging gegen den Versicherten ein Versäumnisurteil auf Unterhalt an die Klägerin in Höhe von 400 DM monatlich. Tatsächlich geleistet hat er keinen Unterhalt.
Die Klägerin, die zur Zeit der Scheidung nicht und 1969 kurzfristig als Montiererin gearbeitet hatte, war danach bis September 1978 nicht mehr erwerbstätig. Von September 1978 bis Juli 1980 erwarb sie am Abendgymnasium die Mittlere Reife, daneben arbeitete sie halbtags im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme beim Finanzamt … von Oktober 1979 bis Juli 1980. Von August 1980 bis Juni 1981 besuchte sie eine einjährige Berufsfachschule und ab Oktober 1981 studierte sie im Fachbereich Sozialwesen an der Gesamthochschule …. Im Rahmen dieses Studiums, das sie 1986 erfolgreich abschloß, absolvierte sie von August 1982 bis März 1983 ein Blockpraktikum bei der Stadt …. Während des übrigen Studiums erhielt sie Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (Bafög).
Am 18. Januar 1984 beantragte die Klägerin Hinterbliebenenrente. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 2. Mai 1984 ab. Den dagegen erhobenen Widerspruch vom 4. Juni 1984 wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 13. Januar 1986 zurück. Der Versicherte sei wegen seiner schlechten wirtschaftlichen Lage und wegen seiner Erkrankung im letzten Jahr vor seinem Tod nicht in der Lage gewesen, Unterhalt zu leisten, so daß die Voraussetzungen für eine Hinterbliebenenrente nicht vorlägen.
Dagegen hat die Klägerin am 3. März 1986 Klage vor dem Sozialgericht Kassel erhoben, das die Schwester und den Bruder des Versicherten als Zeugen zu dessen Unterhaltsfähigkeit gehört hat. Mit Urteil vom 23. Oktober 1987 hat es der Klage stattgegeben, weil der Versicherte während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor seinem Tod unterhaltspflichtig gewesen sei. Er habe sich seiner Unterhaltsleistung absichtlich entzogen, indem er keiner beruflichen Tätigkeit nachgegangen sei, obwohl er dazu die Möglichkeit gehabt habe. Erst nach Ausbruch seiner Krebserkrankung habe er kein Einkommen mehr erzielen können, die Zeit der Krankheit müsse aber unberücksichtigt bleiben.
Gegen das ihr am 13. November 1987 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 23. November 1987 Berufung eingelegt. Der Senat hat die Schwester des Klägers, …, nochmals zu den persönlichen Verhältnissen des Versicherten in der Zeit vor seinem Tode als Zeugin vernommen und Unterlagen der Städtischen Kliniken … über die Krebserkrankung des Versicherten beigezogen. Weiterhin hat der Senat eine fiktive Rentenberechnung des Versicherten zum Zeitpunkt seines Todes veranlaßt und eine Auskunft des Landesarbeitsamtes zu der Beschäftigungssituation von Einzelhandelskaufleuten in der Zeit von 1980 bis 1983 eingeholt.
Die Beklagte, die den Versicherten in der Zeit vor seinem Tode für nicht unterhaltsfähig hält, beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 23. Oktober 1987 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin, die die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend hält, beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen Einzelheiten der Beweiserhebung und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den übrigen Akteninhalt, insbesondere dem Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Die Berufung i...