Leitsatz (amtlich)
Bei der Prüfung der Unterhaltspflicht des geschiedenen Versicherten nach § 1265 Abs 1 S 1 RVO im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor seinem Tode sind neben Erwerbsunfähigkeitsrente des Versicherten die fälligen Ansprüche aus einer Krankenhaustagegeld-Versicherung auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erst nach dem Tode zur Auszahlung gelangt sind (Anschluß an BSG vom 27.10. 1964 4 RJ 383/61 = SozR Nr 26 zu § 1265 RVO und vom 15.12.1966 5 RKn 84/64 = SozR Nr 36 zu § 1265 RVO).
Normenkette
RVO § 1265 Abs 1 S 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 11.12.1985; Aktenzeichen L 1 J 897/83) |
SG Karlsruhe (Entscheidung vom 24.03.1983; Aktenzeichen S 11 J 1099/80) |
Tatbestand
Die 1938 geborene Klägerin begehrt von der Beklagten Geschiedenenwitwenrente nach dem 1939 geborenen und im Juni 1979 verstorbenen Versicherten, mit dem sie von Juli 1960 bis April 1972 verheiratet war. Nach der Ehescheidung heiratete der Versicherte die Beigeladene, die von der Beklagten Witwenrente bezieht. Das Landgericht Karlsruhe verurteilte den Versicherten am 14. Juni 1974, der Klägerin 40,-- DM und den beiden gemeinsamen Kindern je 200,-- DM Unterhalt monatlich von seinem Nettoeinkommen von mindestens 1.750,-- DM zu zahlen. Ab April 1978 bewilligte die Beklagte dem an Krebs erkrankten Versicherten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit. Da der Versicherte seit März 1978 keinen Unterhalt mehr leistete und Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen ihn ergebnislos blieben, bezogen die Klägerin und ihre Kinder Sozialhilfe. Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin auf Geschiedenenwitwenrente mit der Begründung ab, es habe im maßgeblichen Zeitraum an einer Unterhaltsleistung des Versicherten gefehlt und die Klägerin habe ihren Unterhaltsbedarf aus eigenem Erwerbseinkommen decken können (Bescheid vom 15. November 1979).
Widerspruch, Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 5. Mai 1980, Urteil des Sozialgerichts -SG- Karlsruhe vom 24. März 1983; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Baden-Württemberg vom 11. Dezember 1985). Das LSG hat ausgeführt, der Versicherte habe der Klägerin weder tatsächlich Unterhalt geleistet noch sei er ihr "aus sonstigen Gründen" unterhaltspflichtig gewesen noch habe er ihr nach den Vorschriften des Ehegesetzes Unterhalt zu leisten gehabt. Während des maßgeblichen letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor seinem Tode sei er Rentner gewesen und habe einschließlich des Kinderzuschusses für ein Kind ein Renteneinkommen von monatlich 1.278,70 DM gehabt. Das Nettoeinkommen der Klägerin habe monatlich 683,-- DM ausgemacht. Bei Addition beider Einkommen mache der 1/3-Anteil der Klägerin am Gesamteinkommen, der ihren Unterhaltsanspruch darstelle, nur 654,-- DM und damit weniger als das eigene Nettoeinkommen aus. Leistungen aus der Krankenhaustagegeldversicherung wegen der häufigen Krankenhausaufenthalte seit 1978 seien dem Versicherten zu seinen Lebzeiten nicht mehr zugeflossen. Sie könnten deshalb nicht als sein Einkommen im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand berücksichtigt werden.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verletzungen der §§ 62, 103, 106, 128 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), des § 323 der Zivilprozeßordnung (ZPO) und des § 1265 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) durch das Berufungsgericht.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte in Abänderung des Urteils des LSG Baden-Württemberg vom 11. Dezember 1985, des Urteils des SG Karlsruhe vom 24. März 1983 und des Bescheides vom 15. November 1979 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Mai 1980 zu verurteilen, ihr Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres geschiedenen Ehemannes zu gewähren;
hilfsweise beantragt sie, den Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte und die Beigeladene haben sich zur Revision nicht geäußert.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet, weil es an der rechtlich einwandfreien und vollständigen Feststellung der für die Entscheidung notwendigen Tatsachen fehlt.
Auf die vom LSG geprüfte Frage des nach dem Ehegesetz zu leistenden sonstigen Gründen nicht zu leisten hatte. Ersteres hat das LSG festgestellt und die Revision nicht angegriffen. Dagegen fehlen zu Letzterem die erforderlichen Feststellungen.
Das LSG hat übersehen, daß nach dem Beschluß des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. Juni 1963 (BSGE 20, 1) ein vollstreckbarer Unterhaltstitel ein "sonstiger Grund" im Sinne des § 1265 RVO auch dann sein kann, wenn der nach einem solchen Titel zu leistende Unterhalt nicht über den nach den Vorschriften des Ehegesetzes zu leistenden Unterhalt hinausging. Ein solcher Unterhaltstitel ist allerdings dann kein sonstiger Grund in diesem Sinne mehr, wenn der Versicherte zur Zeit seines Todes die Wirkungen des Titels nach den Grundsätzen der §§ 323, 767 ZPO hätte beseitigen können. Nach den Feststellungen des LSG war der Versicherte am 14. Juni 1974 rechtskräftig verurteilt worden, der Klägerin, die damals kein Einkommen hatte, 400,-- DM Unterhalt monatlich zu leisten. Zu der Zeit hatte er bereits die zweite Ehe geschlossen, erzielte ein Nettoeinkommen von mindestens 1.750,-- DM monatlich und mußte jedem seiner beiden Kinder 200,-- DM Unterhalt monatlich zahlen. In diesen Verhältnissen ist offenbar durch die zur Erwerbsunfähigkeit führende Krebserkrankung des Versicherten mit Rentenbezug und häufigen Krankenhausaufenthalten ab März 1978 eine Änderung eingetreten. Ob es dem Versicherten möglich gewesen wäre, deshalb den gegen ihn bestehenden rechtskräftigen Unterhaltstitel im Wege der Abänderungsklage zu beseitigen oder entscheidend zu reduzieren, hat das LSG nicht ausdrücklich festgestellt. Es hat insbesondere Feststellungen dazu unterlassen, ob die wirtschaftliche Situation des Versicherten, zu der neben einem etwaigen Unterhaltsanspruch gegen die Beigeladene oder einer Unterhaltspflicht ihr gegenüber auch ein etwaiger besonderer Bedarf infolge der Krebserkrankung gehörte, derart verändert war, daß er trotz Wegfalls der Unterhaltspflicht gegenüber seiner Tochter eine Änderung des Unterhaltstitels der Klägerin auf weniger als 25 % des Regelsatzes der Sozialhilfe (vgl hierzu BSGE 53, 256 = SozR 2200 § 1265 Nr 63) hätte erwirken können. Insoweit fehlt es jedenfalls an der verfahrensrechtlich einwandfreien Feststellung des Einkommens des Versicherten im letzten Jahre vor seinem Tode.
Wie die Revision zutreffend rügt, ist der Klägerin im Berufungsverfahren das rechtliche Gehör iS der §§ 62, 128 Abs 2 SGG nicht in vollem Umfang gewährt worden. Sie hatte schon im Klageverfahren geltend gemacht, der Versicherte sei aufgrund seiner zur Rente hinzukommenden Krankenhaustagegeldversicherung vor seinem Tod in der Lage gewesen, ihr Unterhalt in nennenswertem Umfang zu leisten. Dieses Vorbringen hat das LSG ohne vorherigen Hinweis mit der Begründung als unerheblich bezeichnet, Leistungen der Krankenhaustagegeldversicherung seien dem Versicherten zu seinen Lebzeiten nicht mehr zugeflossen; sie könnten deshalb bei der Bemessung seiner Unterhaltsfähigkeit keine Berücksichtigung finden. Mit dieser - sachlich unzutreffenden - Rechtsauffassung ist die Klägerin im Berufungsurteil überrascht worden. Sie hatte nicht die Möglichkeit, Beweise für die zu Lebzeiten des Versicherten erfolgten Leistungen der Krankenhaustagegeldversicherung anzubieten, weil für sie nicht erkennbar war, daß das LSG die sämtlich fälligen Ansprüche des Versicherten auf Krankenhaustagegeld unter dem Gesichtspunkt des Auszahlungszeitpunktes bei der Unterhaltsfähigkeit des Versicherten unberücksichtigt lassen würde. Damit mußte die Klägerin insbesondere auch deshalb nicht rechnen, weil dies die lebensfremde Annahme vorausgesetzt hätte, daß der in einem Zeitraum von etwa zwei Jahren immer wieder im Krankenhaus behandelte Versicherte sich hinsichtlich seiner Ansprüche auf das Krankenhaustagegeld im Ergebnis gewissermaßen auf den Saldo nach seinem Tode habe vertrösten lassen.
Da somit infolge unzureichender Gewährung rechtlichen Gehörs nicht einmal das nach der Auffassung des LSG für die Bemessung des Unterhaltsanspruchs der Klägerin gegen den Versicherten rechtserhebliche Einkommen des Versicherten während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor seinem Tode hinreichend festgestellt worden ist, muß das Urteil des LSG aufgehoben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückverwiesen werden (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das LSG indes nicht davon ausgehen können, daß dem Einkommen des Versicherten nur die ihm zu seinen Lebzeiten zugeflossenen Einnahmen aus der Krankenhaustagegeldversicherung zuzurechnen sind. Es wird vielmehr auch die Leistungen der Krankenhaustagegeldversicherung zu berücksichtigen haben, die dem Versicherten vor seinem Tode nicht mehr ausgezahlt worden sind. Denn bei der Prüfung seiner Unterhaltsfähigkeit - etwa im Rahmen einer Abänderungsklage nach § 323 ZPO - hätte er sich der Klägerin gegenüber nicht darauf berufen können, die bereits fällig gewordenen Versicherungsleistungen von der Krankenhaustagegeldversicherung noch nicht erhalten zu haben. Maßgebend ist insoweit allein, daß der Versicherte aufgrund der abgeschlossenen Krankenhaustagegeldversicherung vor seinem Tode bereits einen Anspruch auf Auszahlung der Leistungen hatte (vgl hierzu BSG SozR Nrn 26 und 36 zu § 1265 RVO). Das LSG wird daher zunächst vollständig und genau die Krankenhausaufenthalte des Versicherten und die Höhe des Krankenhaustagegeldes feststellen müssen. Die sich daraus ergebende durchschnittliche Erhöhung seines Einkommens im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode wird es der Beurteilung der Unterhaltsfähigkeit des Versicherten zugrunde legen müssen. Sodann ist unter Berücksichtigung der übrigen Unterhaltspflichten des Versicherten, aber auch eines etwaigen Unterhaltsanspruchs gegen die Beigeladene und etwaiger besonderer Aufwendungen anläßlich der Erkrankung, die der Klägerin als Unterhalt nach der sogenannten Anrechnungsmethode (vgl hierzu SozR 2200 § 1265 Nrn 56 und 79) zuzubilligende Einkommensquote festzulegen. Erst daraus ergibt sich, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes den Unterhaltstitel der Klägerin auf einen unter 25 % des Sozialhilferegelsatzes liegenden Betrag hätte abändern lassen können. Nur wenn das zutrifft, kann der Anspruch der Klägerin auf die sogenannte Geschiedenenwitwenrente verneint werden (vgl SozR 2200 § 1265 Nr 84).
Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen