Entscheidungsstichwort (Thema)
Hilflosigkeit. Kinder. Jugendliche. Stoffwechselerkrankungen. Zöliakie. Diabetes mellitus. Phenylketonurie
Leitsatz (amtlich)
1. Weder das Schwerbehindertengesetz noch das Einkommensteuergesetz kennen einen besonderen Begriff der Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen. Die maßgeblichen Kriterien bei der Feststellung der Hilflosigkeit sind – unter Beachtung der durchschnittlichen besonderen Fälligkeiten des Alters – für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleich.
2. Auch unter Berücksichtigung der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz – Ausgabe 1996 – AHP – (Ziff. 21 und 22) kann bei Erkrankung an Zöliakie im Kindesalter nicht von dem Vorliegen von Hilflosigkeit im Sinne des § 33 b EStG ausgegangen werden, wenn als Therapie ausschließlich eine Diät einzuhalten ist und keine weiteren besonderen gesundheitlichen Komplikationen mit der Erkrankung verbunden sind.
3. Die Annahme von Hilflosigkeit bei Kindern, die unter Zöliakie leiden und eine Diät einhalten müssen, kann auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung nach den AHP erfolgen. Es liegt – mit Ausnahme der in Ziff. 22 t) AHP genannten Fälle – keine Vergleichbarkeit mit den Auswirkungen eines Diabetes mellitus oder einer Phenylketonurie im Kindesalter vor. Bei einer diätetisch beherrschbaren Zöliakie kann nicht davon ausgegangen werden, daß eine ständige Bereitschaft zur Überwachung erforderlich ist, also Hilfe häufig und plötzlich wegen akuter Lebensgefahr i.S. der Ziff. 22 Abs. 3 AHP erforderlich wird.
Normenkette
SchwbG §§ 3, 59 Abs. 1 Nr. 1 3. Alternative; EStG § 33b Abs. 6
Verfahrensgang
SG Gießen (Urteil vom 16.09.1998; Aktenzeichen S 10 SB 753/97) |
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 16. September 1998 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs H. (Hilflosigkeit) wegen der Auswirkungen einer Zöliakie bei der am 8. März 1991 geborenen Klägerin.
Die Eltern der Klägerin beantragten erstmals am 5. April 1994 für diese Feststellungen nach dem Schwerbehindertengesetz – SchwbG –. Durch Bescheid vom 27. April 1994 stellte der Beklagte als Behinderungen fest:
- Zöliakie – Einzel-Grad der Behinderung – GdB – 10 – und
- operativ behandelte Herzerkrankung – Einzel-GdB 20 –. Hieraus ergebe sich, so heißt es weiter in dem Bescheid, kein Mindest-GdB von 20.
Am 16. Juni 1994 beantragte die Klägerin die Erhöhung des GdB und die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs H. In einer aktenmäßigen Stellungnahme wies der Versorgungsarzt W. P. darauf hin, daß die Zöliakie mit 30 bewertet werden solle. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich H lägen nicht vor. Durch Bescheid vom 13. Oktober 1994 stellte der Beklagte ohne eine Änderung der Bezeichnung der Behinderungen den Gesamt-GdB mit 30 fest. Die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs lehnte er erneut ab. Mit einem Neufeststellungsantrag vom 14. Juli 1996 begehrte die Klägerin erneut die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs H. Es gelangte ein Befundbericht des Kinderarztes Dr. F. (Friedberg) zu den Akten und der Beklagte lehnte wiederum die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs H ab (Bescheid vom 27. August 1996). Zur Begründung führte er aus, daß eine wesentliche Änderung der Verhältnisse, die der vorangegangenen Bescheiderteilung zugrunde gelegen hätten, nicht eingetreten sei. Die anerkannte Stoffwechselstörung sei durch Diät gut eingestellt und von Seiten des Herzens bestünden z.Zt. keine Beeinträchtigungen. In dem Widerspruch vom 25. September 1996 führten die Eltern der Klägerin aus, daß die Tochter der ständigen Anleitung bei der Nahrungsaufnahme zur Vermeidung von Diätfehlern benötige. Durch Widerspruchsbescheid vom 20. März 1996 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte er aus, daß bei der Zöliakie Hilflosigkeit nur ausnahmsweise in Betracht komme, und zwar dann, wenn die Krankheit so spät festgestellt worden sei, daß bereits schwere Auswirkungen entstanden seien. Allerdings sei auch in solchen Fällen durch Einstellung auf eine entsprechende Diät eine Konsolidierung des Zustandes nach etwa einem Jahr erreicht. Die Auswirkungen der Krankheit bei Diätfehlern seien bei Kindern so gering, daß keine Hilfeleistungen in einem Umfang erforderlich seien, die die Annahme von Hilflosigkeit rechtfertigen könnten. Der Umfang der Hilfeleistungen bei Zöliakie sei bei Kindern in der Regel wesentlich geringer als bei Kindern mit Phenylketonurie oder mit Diabetes mellitus.
Auf die Klage der Eltern der Klägerin vor dem Sozialgericht Gießen vom 18. April 1997 hat der Beklagte eine versorgungsärztliche Stellungnahme der Dr. … vom 27. Januar 1998 zu den Akten übersandt und das Sozialgericht hat einen Befundbericht bei Dr. F. e...