Revision unter 7 RAr 108/90 v. d. Bekl. zurückgenommen
Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosenhilfe. Anrechnung fiktiver Unterhaltsansprüche. zumutbare Arbeit. unterhaltsrechtliche und arbeitsförderungsrechtliche Erwerbsobliegenheiten. unterhaltsrechtliche und arbeitsförderungsrechtliche Bedürftigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. § 10 Nr. 3 Alhi-VO ist nicht von der Ermächtigungsnorm des § 137 Abs. 3 AFG gedeckt, soweit sich dieser auf die fehlende Bereitschaft des Arbeitslosen zur Annahme arbeitsförderungsrechtlich unzumutbarer Tätigkeiten bezieht, bzw. beziehen soll (Anschluß an HLSG Urt. v. 6.12.1989, L-6/Ar. 702/89).
2. Die Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruchs nach § 137 Abs. 1 a AFG setzt in der Tatbestandsalternative des Unterlassens voraus, daß der Unterhaltsanspruch bei Hinzudenken der unterlassenen Handlungen tatsächlich bestünde und diese arbeitsförderungsrechtlich zumutbar sind.
3. Eine Auslegung des § 137 Abs. 1 a AFG, die von diesen Voraussetzungen absieht und allein auf das Vorhandensein dem Grunde nach unterhaltspflichtiger Verwandter ersten Grades abhebt, ist mit § 103 Abs. 2 AFG und der hierzu ergangenen Zumutbarkeits-Anordnung sowie mit dem Grundsatz der individuellen Arbeitsvermittlung nicht vereinbar und würde insgesamt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen.
Normenkette
AFG §§ 103, 134, 137 Abs. 1a; Alhi-VO § 10 Nr. 3; Zumutbarkeit-AO § 8; Zumutbarkeit-AO § 9; Zumutbarkeit-AO § 12; GG Art. 3 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Kassel (Urteil vom 09.11.1989; Aktenzeichen S-11/Ar-638/89) |
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 9. November 1989 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die 1950 geborene Klägerin ist von Beruf Kinderkrankenschwester und hat diesen Beruf bis zum 31. März 1988 halbtags ausgeübt. Sie ist ledig und lebt mit ihrer 1980 geborenen Tochter in einem eigenen Haushalt. Für die Zeit nach dem 31. März 1988 bewilligte ihr die Beklagte Arbeitslosengeld (Alg) bis zum 30. März 1989 und für die Folgezeit Arbeitslosenhilfe (Alhi) unter Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruchs gegen ihren Vater in Höhe von wöchentlich DM 90,12. Ab dem 1. Oktober 1989 hat die Klägerin wieder eine Beschäftigung in ihrem Beruf aufgenommen.
Nach erfolglos durchgeführtem Widerspruchsverfahren hat die Klägerin Klage erhoben mit der Begründung, ihr stehe kein Unterhaltsanspruch gegenüber ihrem Vater zu, da sie nicht zur Annahme einer jedweden Beschäftigung, einschließlich von Hilfsarbeiten, bereit sei, sondern sich vorrangig um eine Beschäftigung in ihrem erlernten Beruf bemühe. Mit Urteil vom 9. November 1989 hat das Soziargericht Kassel die angefochtenen Bescheide abgeändert und die Beklagte antragsgemäß verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 31. März bis 30. September 1989 Alhi ohne Anrechnung eines Unterhaltsanspruchs gegen ihren Vater zu zahlen.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§ 151 SGG) ist kraft Zulassung im Tenor des angefochtenen Urteils zulässig (§§ 147, 150 Nr. 1 SGG).
Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 9. November 1989 ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Der angefochtene Bescheid vom 6. April 1989 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. April 1989 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, als die Alhi der Klägerin während des hier in Frage stehenden Zeitraums nur unter Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruchs gegen ihren Vater bewilligt wurde. Das Sozialgericht hat daher die angefochtenen Bescheide zutreffend abgeändert und die Beklagte zur Zahlung der Alhi in voller Höhe verurteilt.
Die Klägerin erfüllt für den hier fraglichen Zeitraum die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Alhi: Sie war im Anschluß an den Bezug von Alg weiter arbeitslos, stand der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, hatte sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und Alhi beantragt (§ 134 Abs. 1 Nrn. 1, 2 und 4 AFG). Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig und der Senat hat keine Veranlassung, am Vorliegen dieser Voraussetzungen zu zweifeln. Fraglich und umstritten ist allein das Ausmaß der Bedürftigkeit der Klägerin, konkret die Anrechenbarkeit eines fiktiven Unterhaltsanspruchs der Klägerin gegen ihren Vater. Die Beklagte durfte bei der vorliegenden Sachverhaltsgestaltung jedoch keinen Unterhaltsanspruch auf die Alhi der Klägerin anrechnen.
Gemäß § 137 Abs. 1 AFG ist der Arbeitslose bedürftig, soweit er seinen Lebensunterhalt und den seines Ehegatten sowie seiner kindergeldberechtigten Kinder nicht auf andere Weise als durch Arbeitslosenhilfe bestreitet oder bestreiten kann. Im Rahmen der hiernach vorzunehmenden Bedürftigkeitsprüfung werden als Einkommen auch Leistungen Dritter bzw. Ansprüche gegenüber Dritten berücksichtigt, Unterhaltsansprüche jedoch nur gegen Verwandt...