Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerbsunfähigkeit, selbständige Erwerbstätigkeit, gewerblicher Unternehmer, Mitwirkung im Geschäftsbetrieb
Leitsatz (amtlich)
Ein gewerblicher Unternehmer übt eine selbständige Erwerbstätigkeit i.S. von RVO § 1247 Abs. 2 Satz 2 nicht aus, wenn er nach den tatsächlichen. Verhältnissen nicht mehr aktiv oder direktiv tätig ist und auch keinen maßgebenden Einfluß auf das Betriebsgeschehen mehr hat, unabhängig davon, ob er aus seinem Unternehmen oder Betrieb weiterhin Einkünfte erzielt.
Normenkette
RVO § 1247 Abs. 2 Sätze 1, 2 – Fassung: 1972-10-16
Verfahrensgang
SG Gießen (Urteil vom 21.11.1978) |
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 21. November 1978 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin auch die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen Aufwendungen des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt als Rechtsnachfolgerin eine Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der Versicherung ihres am 15. Juli 1977 verstorbenen Ehemannes J. M. (Versicherter).
Der Versicherte war seit 1963 als selbständiger Schlosser- und Installationsmeister tätig und bis zu seinem Tode in der Handwerksrolle eingetragen. Am 14. Oktober 1975 erkrankte er an Bronchial-Karzinom und befand sich vom 16. Oktober 1975 bis 19. Dezember 1975, vom 29. März 1976 bis 10. Mai 1976, vom 29. Oktober 1976 bis 2. Dezember 1976, vom 19. Januar 1977 bis 1. April 1977 und vom 14. Juli 1977 bis 15. Juli 1977 in stationärer Behandlung. Zwischen den einzelnen stationären Behandlungen war sein Hausarzt Dr. B. mit der häuslichen Betreuung des Versicherten beauftragt worden. Nach seinem Bericht vom 30. September 1978 habe der Verlauf der Krankheit schnell zu einem körperlichen und seelischen Verfall geführt, so daß der Versicherte vorwiegend bettlägerig und pflegebedürftig gewesen sei. Oft sei es zu Bewußtseinstrübungen gekommen. Der Versicherte sei nicht in der Lage gewesen, irgendwelche körperliche oder geistige Leistungen zu erbringen.
Am 9. Juli 1976 beantragte der Versicherte die Gewährung von Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Nach Auswertung des Entlassungsberichtes der Heilstätte O. vom 30. Dezember 1975 und des Befundberichtes von Dr. B. vom 15. Mai 1976 kamen die Prüfärzte der Beklagten zu dem Ergebnis, daß dem Versicherten mindestens seit der Arbeitsunfähigkeitsmeldung am 14. Oktober 1975 keine Arbeiten im Erwerbsleben mehr zumutbar seien. Durch Bescheid vom 15. Dezember 1976 gewährte die Beklagte Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Juli 1976. Als Versicherungsfall legte sie den 14. Oktober 1975 zugrunde.
Mit seinem hiergegen eingelegten Widerspruch trug der Versicherte vor, er sei nicht berufsunfähig, sondern erwerbsunfähig; er könne keine Arbeiten mehr im eigenen Betrieb verrichten. Die Umschreibung des Betriebs, in dem fünf Arbeitnehmer beschäftigt seien, solle in Kürze auf den Sohn erfolgen.
Durch Widerspruchsbescheid vom 8. Juli 1977 wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, zwar liege bei dem Versicherten aus medizinischer Sicht Erwerbsunfähigkeit vor, doch erwirtschafte er mit seinem Gewerbebetrieb auch ohne eigene Mitwirkung mehr als nur geringfügige Einkünfte, so daß Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 1247 Abs. 2 Satz 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht angenommen werden könne.
Mit ihrer Klage vor dem Sozialgericht Gießen machte die Klägerin geltend, § 1247 Abs. 2 Satz 2 RVO setze voraus, daß ein Antragsteller eine selbständige Tätigkeit tatsächlich ausübe. Es komme nicht darauf an, ob ihm in seiner Eigenschaft als Inhaber eines Gewerbebetriebes Erträgnisse zuflössen, sondern darauf, ob er in irgendeiner Form tätig sei. Der Versicherte sei aber infolge seines Gesundheitszustandes zu keinerlei Tätigkeiten fähig gewesen. Außerdem habe der Betrieb mit Verlust gearbeitet, so daß über den Nachlaß das Konkursverfahren eröffnet worden sei.
Die Beklagte meinte demgegenüber, der Versicherte sei bis zu seinem Tode noch selbständig erwerbstätig gewesen, da er bis zu diesem Zeitpunkt Unternehmer geblieben sei. Unerheblich sei, wie umfangreich die tatsächliche Mitarbeit im Betrieb und wie hoch der daraus erzielte Gewinn gewesen seien. Ebensowenig komme es darauf an, aus welchen Gründen die Abmeldung oder Umschreibung des Betriebs nicht erfolgt sei.
Das Sozialgericht hat über die Frage, inwieweit der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode noch in der Lage gewesen sei, auf den Gewerbebetrieb Einfluß zu nehmen, Beweis erhoben durch Vernehmung des Rohr-Installateurs B. M., Sohn des Versicherten, und des kaufmännischen Angestellten H. S. als Zeugen. Wegen des Inhaltes der Zeugenaussagen wird auf die Niederschrift vom 22. August 1978 (Bl. 33 bis 35 der Gerichtsakte) verwiesen.
Durch Urteil vom 21. November 1978 verpflichtete das Sozialgericht die Beklagte unter Abänderung des Bescheids...